03. Aug. 2023

»Im Grunde beleuchtet Yokomizo in seinen Geschichten universelle Fragen«

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In »Mord auf der Insel Gokumon« schickt Seishi Yokomizo seinen Ermittler Kosuke Kindaichi auf eine entlegene Insel, wo sich eine Reihe grausamer Mordfälle ereignen, die den Privatermittler sogar selbst in Gefahr bringen. Übersetzerin Ursula Gräfe spricht im Interview über das besondere japanische Setting und ihre Begeisterung für die Bücher Yokomizos, die auch für erfahrene Krimileser:innen bis zur letzten Seite überraschende Wendungen bereithalten.

 »Im Grunde beleuchtet Yokomizo in seinen Geschichten universelle Fragen – was können nationale Arroganz, ein erbarmungsloser Ehrbegriff und bedingungsloser Gehorsam anrichten? –, die uns ja wirklich nicht fremd sind«

Mord auf der Insel Gokumon
Empfehlung
Hardcover
22,00 €

Liebe Ursula Gräfe, Sie sind die wohl bekannteste deutsche Übersetzerin aus dem Japanischen, haben Bücher von Yoko Ogawa, Sayaka Murata und Haruki Murakami übertragen, und bekommen vermutlich sehr viele neue Anfragen. Warum wollten Sie gern Seishi Yokomizo übersetzen? Was hat Sie daran besonders gereizt?

Begeistert hat mich auf Anhieb die Mischung aus japanischen Schauplätzen, japanischer Weltsicht und Yokomizos nach Sherlock Holmes-Vorbild analytisch-rational ermittelndem Detektiv Kindaichi. Diese Verbindung finde ich sehr attraktiv. Außerdem hat Yokomizo »Die rätselhaften Honjin-Morde« und »Mord auf der Insel Gokumon« in der unmittelbaren Nachkriegszeit geschrieben, sie liefern also ein völlig authentisches Bild gewisser Lebensumstände in dieser Epoche, das interessiert mich sehr. Dazu ist Seishi Yokomizo mit 77 veröffentlichten Werken einer der fruchtbarsten Kriminalautoren der Welt, und es wäre einfach zu schade, ihn der deutschen Krimileserschaft vorzuenthalten. Zum Vergleich: Agatha Christie hat 66 Werke veröffentlicht und belegt laut dem UNESCO Index Translationum mit großem Abstand den ersten Platz der weltweit meistübersetzten Autor:innen.

Porträtfoto Ursula Gräfe
Übersetzer:in

Ursula Gräfe hat Japanologie, Anglistik und Amerikanistik in Frankfurt am Main studiert.

Ist Yokomizo ein typisch japanischer Autor? Gerade seine Romane um den Detektiv Kosuke Kindaichi gelten ja als sehr beeinflusst von westlichen Autor:innen wie John Dickson Carr, Sir Arthur Conan Doyle oder Agatha Christie.

Die genannten Autor:innen haben die Kriminalliteratur der ganzen Welt beeinflusst, die zu Zeiten pauschal gesagt ein britisches Genre war. Dennoch könnten beispielsweise die Romane um Kommissar Maigret oder Philipp Marlowe nur in Frankreich oder den USA spielen. Ebenso wie Yokomizos Bücher einen typisch japanischen Geist und Hintergrund haben. Also, ja, er ist ein sehr japanischer Autor, der zwar selbst zahlreiche englische Kriminalautor:innen ins Japanische übersetzt hat, sich aber in seinen eigenen Romanen ausdrücklich an der Denkungsart seines Landes abarbeitet – nie geht es um das reine Verbrechen oder um die Verurteilung eines Verbrechens an sich, sondern stets um dessen Ursache. Und diese Ursache liegt immer in der Starrheit japanischer Traditionen – wie Familie, Gehorsam, Ahnenverehrung usw. –, die sein junger Ermittler Kindaichi schon durch sein unkonventionelles unordentliches Erscheinungsbild infrage stellt. Yokomizo analysiert die komplizierten psychologischen Beziehungen zwischen den Beteiligten und die schwer zu durchschauenden Zusammenhänge von Ursache und Wirkung, wodurch der typische Spannungsbogen entsteht. Üblicherweise basiert die Lösung auf detailgenauer Beobachtung und nüchterner Schlussfolgerung. Und alles passt.

Yokomizos neues Buch ist Kosuke Kindaichis zweiter Fall und spielt unmittelbar nach dem Ende des zweiten Weltkriegs auf einer abgelegenen Insel. Eine sehr besondere Perspektive, die mir beim Lesen trotzdem gar nicht fremd vorkam …

Auch für mich war das Setting sehr außergewöhnlich – eine ehemalige Piraten- und Sträflingsinsel, die von mächtigen und konkurrierenden Fischerfamilien beherrscht wird. Bekannt ist aber, so meine ich, die allgemeine Situation dort. So abgelegen die Insel sein mag, auch ihre Bewohner:innen sind mit der umfassenden Zerstörung nach dem verlorenen Krieg konfrontiert. Die Rückkehr von Detektiv Kindaichi aus Gefangenschaft, seine Zweifel an dem Eroberungszug, an dem er teilnehmen musste, die Orientierungslosigkeit und die Werte, die nicht mehr gelten, sind sehr vertraute Themen. Interessant, ist in diesem Zusammenhang auch, dass Seishi Yokomizo während des Krieges keine Kriminalromane schreiben durfte, denn im japanischen Kaiserreich galten diese (wie auch im Dritten Reich) als moralisch zersetzend. Und im Grunde beleuchtet Yokomizo in seinen Geschichten universelle Fragen – was können nationale Arroganz, ein erbarmungsloser Ehrbegriff und bedingungsloser Gehorsam anrichten? –, die uns ja wirklich nicht fremd sind.

Eine besondere Rolle für die Lösung des Falls spielen drei Haikus, eine traditionelle japanische Gedichtform. Kannten Sie sich damit schon vorher aus oder mussten Sie sich erst einarbeiten?

Ich war schon vorher damit in Berührung gekommen, denn Professor Ekkehard May, bei dem ich in Frankfurt Japanologie studiert habe, ist ein hervorragender Kenner der Haiku-Dichtung. Prof. May hat mehrere ausführlich kommentierte Bände mit Haiku-Übersetzungen auch des Dichters Basho herausgegeben, der im Roman eine so tragende Rolle spielt. Sie stehen seit langem in meinem Bücherschrank, so dass ich sie ausgiebig und mit großem Gewinn bei der Übersetzung von »Mord auf der Insel Gokumon« zurate ziehen konnte. (Für interessierte Leser:innen, z.B.: Matsuo Bashō, Haibun, hrsg. und aus dem Japanischen übertragen von Ekkehard May)

Die Auflösung des Falls auf der Insel Gokumon hat mich völlig überrascht. Sie als Übersetzerin lesen einen Text ja vielleicht genauer als jeder andere. Auf welcher Seite wussten Sie, wie es ausgeht?

Ich wusste bis zum Schluss nicht, wer es war und wie alles zusammenhing. Und ganz am Ende, nachdem der Fall schon geklärt ist, erhalten wir ja noch diese kleine Information, die der ganzen Geschichte ihre wahrhaft große Tragik verleiht. Wie in allen Romanen von Seishi Yokomizo kommt es bis ganz zuletzt zu Wendungen, die auch nach aufmerksamstem Lesen unerwartet sind. Ganz früh im Roman schon gibt es Hinweise, aber sie sind so beiläufig platziert, dass zumindest ich sie erst im Nachhinein erkannt habe. Die Beziehungen zwischen den Figuren sind nie offensichtlich, und zeitliche Abläufe, die eindeutig scheinen, sind es häufig nicht. Ich musste jedenfalls warten, bis Detektiv Kindaichi Tat und Motiv mit seiner genialen Beobachtungs- und Kombinationsgabe aufklärt. Kein Wunder, denn zwischendurch gerät ja sogar er ein paar Mal auf den Holzweg. Auch die Übersetzerin muss höllisch aufpassen.

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Interview mit dem Enkel von Seishi Yokomizo über dessen schriftstellerisches Schaffen

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