Die Liebesbriefe der jungen Anna Seghers – nach 100 Jahren erstmals veröffentlicht
Ich will Wirklichkeit
Liebesbriefe an Rodi 1921–1925
Aus dem Vorwort von Anna Seghers’ Enkel, Jean Radvanyi
Mein Vater, Pierre (Peter) Radvanyi, der Sohn von Anna Seghers (geb. Netty Reiling), starb am 6. Dezember 2021, dem Nikolaustag. Nach seinem Tod bestimmten mich die Nachkommen meiner Großmutter – meine Cousine Anne (die Tochter ihrer Tochter Ruth), mein Halbbruder François sowie unsere Kinder Netty und Tibor, Etienne und Charlotte – zum Vertreter der Familie, was das literarische Erbe angeht, organisiert über die Anna-Seghers-Stiftung und die Anna-Seghers-Gesellschaft. Um den gemeinsamen Wunsch meines Vaters und seiner Schwester zu erfüllen, wollte ich alle bis dahin in der Familie aufbewahrten Dokumente dem Archiv der Akademie der Künste, Berlin, übergeben, dem seit DDR-Tagen auch die übrigen Arbeitsunterlagen meiner Großmutter anvertraut sind.
Es ging um Dokumente sehr verschiedener Art: Zum einen handelte es sich um Hunderte von Fotografien aus allen Lebensabschnitten, wovon einige bekannt und bereits veröffentlicht worden sind, andere, intimere Bilder waren nie außerhalb des Familienkreises gezeigt worden und befanden sich in unseren privaten Fotoalben. Ein zweiter Komplex umfasste Verwaltungsdokumente von der Zeit in Deutschland vor 1933 über das Exil in Frankreich und Mexiko bis hin zur Rückkehr nach Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Auch hier wurde ein Teil bereits ausgewertet und veröffentlicht, anderes blieb im Verborgenen. Ich konnte die Unterlagen übrigens dank neuerer Entdeckungen in Archiven in Moskau, Paris und Mexiko-Stadt ergänzen.
Ein dritter Komplex bestand aus Briefen, die sie nach 1945 an verschiedene Familienmitglieder schrieb (die »Dienst«- Briefe befinden sich bereits im Archiv). Hierbei handelt es sich hauptsächlich um Briefe mit familiärem Charakter, die sie und ihr Ehemann Rodi (László Radványi, später Radvanyi sowie Johann-Lorenz Schmidt) an Kinder und Enkelkinder richteten. Sie beschäftigen sich hauptsächlich mit dem Alltag, mit Fragen der Gesundheit, es geht um Bildung (unsere Großeltern haben sich immer sehr um diesen Aspekt gekümmert), Urlaub, Reisen und die dafür erforderlichen Visa. Politische Fragen werden so gut wie nie angesprochen. Anna Seghers wusste zweifellos, dass ihre Briefe geöffnet und gelesen werden konnten – sie lebte seit April 1947 in Ost-Berlin. Wenige Briefe befassen sich mit ihrer Arbeit, meist in Form von Fragen, die sie an uns richtete, um ihre Zusammenstellungen von Fakten zu vervollständigen.
Ihre Begegnung fiel mehr oder weniger direkt mit der ersten Trennung zusammen in dieser besonders in den ersten Jahren an Trennungen reichen Beziehung. Glücklicherweise war mein Großvater so klug, die Briefe, nachdem er sie gelesen hatte, wieder in die Umschläge zu stecken und sie chronologisch zu kleinen Päckchen zu ordnen, die er in Zeitungsseiten aus der damaligen Zeit verschnürte (siehe Abbildung). Kaum einer der Briefe ist datiert, eine Praxis, die Anna Seghers auch nach dem Krieg in ihrer Familienkorrespondenz beibehielt. Dank Rodis Sorgfalt und anhand der Poststempel ist es jedoch gelungen, fast alle Briefe zeitlich zu bestimmen. Etliche der Briefe enthalten Zeichnungen von ihrer Hand, manchmal auch Fotos oder spezielle Beigaben.
Auch wenn wir, abgesehen von einigen Zeichnungen (siehe Abb. 8 und 9), keinen der Antwortbriefe haben und diese Korrespondenz für uns also einseitig bleibt, erweitert sie unser Wissen über eine entscheidende Periode im Leben von Anna Seghers ganz wesentlich und zeigt sie von einer Seite, die wir bisher nicht kannten.