»Ich musste meine Denkweise völlig ändern, um sein Leben zu verstehen«

Im dritten Teil des Interviews zum neuen Roman spricht er darüber, wie ein drastischer Perspektivwechsel nötig war, um das Leben seines Bruders zu verstehen.
Der Absturz
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Roman
Die Geschichte von Louis’ Bruder ist die eines ständig scheiternden Träumers.
In der Arbeitswelt ohne Aussicht, wünscht er sich ein größeres Leben. Eines, in dem er Kathedralen restauriert, die Welt bereist und die Liebe seines Vaters verdient. Doch nichts davon lässt seine Wirklichkeit zu, er versinkt in Alkohol- und Spielsucht und bleibt ein tragischer Phantast. Dieses Buch ist ein schonungsloses und doch zartes Porträt des Bruders, der in berührenden Szenen immer wieder versucht, dem jüngeren Édouard einen anderen Weg ins Leben zu weisen als den eigenen.

Es gibt einen bemerkenswerten Unterschied zwischen ihrem neuen Roman »Der Absturz« und Ihren anderen Büchern, denn Sie erforschen die gesellschaftlichen Zwänge und den Druck, der auf Ihrem Bruder lastet, wie Sie es in den vorherigen Büchern getan haben, aber dieses Mal beschäftigen Sie sich auch mit Psychologie. Warum war das in diesem Fall notwendig?
Wissen Sie, ich habe dreieinhalb Jahre gebraucht, um dieses Buch zu schreiben. Mit viel Schmerz, mit vielen schwierigen Momenten. Ich war verloren. Ich habe versucht, den richtigen Ton zu finden. Ich habe versucht, den richtigen Weg zu finden, diese Geschichte zu erzählen, und ich konnte ihn nicht finden. Und das hat mich fertiggemacht, weil ich diese Geschichte erzählen musste. Ich musste es einfach.
Und etwas sträubte sich dagegen.
Und plötzlich wurde mir klar, und das ist der Kern des Buches, dass mein Bruder, als ich ein Kind war, sehr große Träume hatte. Er träumte davon, wie ich es auch im Buch sage, Notre Dame zu restaurieren, bevor es abbrannte. Er träumte davon, die größte Metzgerei Frankreichs zu eröffnen, in die Madonna und Brad Pitt kommen würden, vor laufender Kamera. Er träumte davon, ein Immobilienmakler zu sein.

Und das brachte mich zum Nachdenken darüber, dass eine der Auswirkungen der sozialen Gewalt in meiner Kindheit die Art und Weise war, wie die Gewalt unsere Träume und unser Denken beschränkte. Die meisten Leute, mein Vater, meine Onkel, meine Mutter, wollten einen großen Fernseher haben, ihr eigenes Haus bauen, ein schönes Auto haben, um am Wochenende aufs Land zu fahren. Sie träumten nicht davon, Notre Dame zu restaurieren und hätten dafür keine Lehre aufgenommen.

Und als ich das begriffen hatte, musste ich das Buch völlig neu schreiben, mit anderen Bezügen, einem anderen Ton, und plötzlich las ich Psychologie, Sigmund Freud, Julia Kristeva, Ludwig Binswanger, und ich musste meine Denkweise völlig ändern, um sein Leben zu verstehen.
Das Interview führte Elisabeth Botros
Mehr aus der Interviewreihe
Im Ersten Teil, »Literatur ist das Ende des Urteilens.«, sprach Édouard Louis über das Schreiben, das Verhältnis zu seinem Bruder und über die Möglichkeit der Veränderung durch Literatur.
In Teil zwei, »Dieses Buch is eine versteckte Autobiografie darüber, was ich hätte sein können« erzählte er darüber, wie all seine Geschichten miteinander verknüpft sind und was seinen Bruder und ihn verbindet/unterscheidet.