12. Juni 2023

Ursel Allenstein über ihre Übersetzung von Tove Ditlevsens »Böses Glück«

Ursel Allenstein über die Radikalität in Ditlevsens Schreiben, tabuisierte Themen, mental load, Illusion und Glück

Liebe Ursel, nach der »Kopenhagen-Trilogie« und dem Roman »Gesichter« hast Du jetzt ausgewählte Erzählungen von Tove Ditlevsen aus dem Dänischen übersetzt. Was hat Dich an den Geschichten am meisten überrascht?

Porträtfoto Ursel Allenstein
Übersetzer:in, Autor:in

Ursel Allenstein, 1978 geboren, studierte Skandinavistik und Germanistik in Frankfurt und Kopenhagen. Sie ist Übersetzerin aus dem Dänischen, Schwedischen und Norwegischen von u.a.

Die sprachliche und inhaltliche Zeitlosigkeit und Aktualität dieser teils schon in den 1950er Jahren erschienenen Erzählungen. Obwohl sie aus einer Vergangenheit stammen, in der die Männer noch mit der Zeitung in der Hand am Tisch sitzen und darauf warten, dass die Gattin ihnen das Essen serviert, scheinen sich die existentiellen und moralischen Dilemmata – vor allem jene der Frauen und Kinder – nicht wesentlich verändert zu haben.

Böses Glück
Empfehlung
Hardcover
20,00 €

Worum geht es in den Storys?

Ditlevsen ist ihrem weiblichen Universum immer treu geblieben. Auch in den Kurzgeschichten wagt sie sich an tabuisierte Themen, es geht um Frauen, die ihre Familie verlassen oder selbst verlassen und ausgegrenzt werden, um Fehlgeburten und Abtreibungen, um seelisches Leid von Kindern und Erwachsenen, aber auch um Klasse und Herkunft. Das titelgebende »böse Glück« beschreibt die Verletzlichkeit des Lebens, jene Kipp-Punkte in menschlichen Beziehungen, an denen die Katastrophe einsetzt – oder auch ein brutaler Befreiungsschlag. Es ist ein gefährdetes Glück oder ein Glück auf Kosten anderer, für das die Protagonistinnen aber auch selbst einen hohen Preis zahlen müssen. Und in manchen Erzählungen ist das Glück einfach nur eine auf gesellschaftlichen Konventionen oder romantischen Vorstellungen beruhende Illusion. Auch in dieser Schonungslosigkeit gegenüber den eigenen Figuren (und auch den Leser:innen) erscheint mir Ditlevsen überraschend radikal und aktuell.

 

In welcher Zeit sind diese Erzählungen entstanden? Wo würdest Du sie im Werk von Tove Ditlevsen verorten?

Teils Anfang der 1950er Jahre, teils Anfang der 1960er Jahre. Man erkennt bereits deutlich die modernen Züge von Ditlevsens Spätwerk, und mehrere Szenen und Figuren finden sich in veränderter Form in der Kopenhagen-Trilogie wieder. Die eher untypische letzte Erzählung »Böses Glück« wirkt wie eine erste Skizze von »Kindheit« und »Jugend«, und »Die kleinen Schuhe« zeichnen den Roman »Gesichter« voraus.

 

Im Mittelpunkt stehen oft Frauen, die in einer komplizierten Beziehungs- oder Familiensituation stecken und aus ihren Rollen ausbrechen möchten. Wie macht Tove Ditlevsen das, ihre Figuren auf so wenigen Seiten so lebendig zu zeichnen?

Sie war eine scharfe Beobachterin mit einem Sinn für die Psychologie des Menschen, für die Muster, Gedanken, Handlungen und Gesten, die uns prägen. Und sie konnte sich mit einer großen erzählerischen Kompromisslosigkeit in die unterschiedlichsten Köpfe hineindenken, selbst in den eines komplexbeladenen, größenwahnsinnigen Familiendespoten. Auch wenn man sich nicht immer mit ihren Protagonist:innen identifiziert, hat man doch zumindest das Gefühl, ihnen schon einmal begegnet zu sein. Und wie realistisch sie die Gesten und Gedanken der Kinder beschreibt! Die Lakonie ist Ditlevsen näher als die Sentimentalität, sie beherrscht die Kunst der Andeutung und Bildhaftigkeit und erliegt nie der Versuchung, den Lesern etwas erklären zu wollen. Außerdem fasziniert mich ihr multiperspektivische Erzählen, wie mühelos sie – zum Beispiel in der Erzählung »Ein gutes Geschäft« – zwischen mehreren Figuren hin- und herwechselt, sie ineinander spiegelt und ihnen dadurch eine noch größere Tiefe verleiht.

 

Hast Du einen Lieblingssatz?

»Er betrachtete sie mit kühler Verwunderung, als wäre sie ein Katzenjunges, das inmitten von rauchenden Ruinen spielt.«

 

Und eine Lieblingsgeschichte?

Aufgewühlt haben mich alle. Sehr raffiniert fand ich »Ein gutes Geschäft«, in der wir so kunstvoll die unterschiedlichen Blickwinkel aller Figuren kennenlernen, aber die Solidarität liegt eindeutig bei den Schwächsten, der alleinerziehenden Frau und ihren Kindern. Und »Depression«, eine Geschichte, in der die weibliche Hauptfigur in einem emotionalen Kraftakt über sich hinauswächst. Es geht um die Befreiung von etwas, was wir heute wohl »Mental Load« nennen würden. Beide Erzählungen haben außerdem parodistische Züge, die uns auf befreiende Weise zu Komplizinnen der Heldinnen machen.

 

Was gibt es von Tove Ditlevsen als nächstes zu entdecken?

Ihren atemberaubenden letzten Roman »Vilhelms Zimmer«. Und danach ist erstmal eine Auswahl von Gedichten geplant.

 

Die Fragen stellte Friederike Schilbach

 

Zum Interview mit Ursel Allenstein über ihre Übersetzung von Tove Ditlevsens »Gesichter«

 

Zur Tove Ditlevsen-Biographie von Jens Andersen (das Buch erscheint im Oktober 2023)

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