12. Apr. 2023

»Ich habe von einem Screenshot angefangen zu schreiben«

Autorin Josefine Soppa über ihren Debütroman »Mirmar«, einen Strand am Meer, eine ungewöhnliche Mutter-Tochter-Beziehung, eine subversive Bewegung von Frauen und den Traum vom selbstbestimmten Umgang mit der eigenen Lebenszeit

Wann hast Du angefangen, MIRMAR zu schreiben?

Ich habe »Mirmar« sozusagen in Covid reingeschrieben. Ich habe einer Freundin, Laura Bleck, mit der ich viel zusammenarbeite, eine Szene vorgelesen, und sie hat gesagt: »Oh, du willst das weiterschreiben«. Und dann hat sie einen Legitimationstrick gemacht, weil sie wusste, dass ich mich sonst nicht traue, an etwas zu schreiben, was keine Nachfrage und keinen Rahmen und vielleicht noch kein Ziel hat. Da wir beide viel über Rahmenbedingungen von (künstlerischen) Arbeiten nachdenken, wie erlaube ich mir zu arbeiten, wie lange reicht das Geld aus den Nebenjobs usw., hat sie dieses Nachdenken praktisch gemacht und mir ein persönliches Stipendium verliehen. Sie hat mich beauftragt, einen Tag pro Woche zu schreiben. Und dann war der Anfang von Covid, wo durch den Rückzug erstmal weniger Druck war, und diesen Spalt habe ich gebraucht. Dann habe ich das auf die Morgen verteilt und jeden Morgen weitergeschrieben, bis es immer mehr wurde. Dann habe ich den Text zum open mike-Wettbewerb gesendet, und als ich eingeladen wurde, wusste ich, jetzt mach ich‘s.

Mirmar
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Was war zuerst da?

Zuerst war da der Ort: Dieser Strand am Meer, unwirklich limitiert und unbeweglich und sanft und verloren, da habe ich draufgeguckt. Es war eine Verortung von einer Stimmung oder einem Wunsch. Ich habe von einem Screenshot aus angefangen zu schreiben, den ich auf einem Google Maps-Ausflug irgendwo online gemacht habe. Da war so eine einsame Radachse halb unterspült vom Wasser, und es hatte durch den Screenshot so eine unwirkliche Farbigkeit. Ein Reiseschnappschuss von einem digitalen Rumschweifen.

 

 

Wie sind die Figuren zu Dir gekommen?

Die Mutter saß dann da am Strand, weil ich ihre eine Erholung gewünscht habe, und dafür muss man manchmal aus allen Umständen raus. Dann habe ich ein Zitat von Ursula K. Le Guin auf ihrer Wikipedia-Seite gelesen: »Man sieht jemanden, auf eine gewisse Entfernung, meist in einer Landschaft. Der Ort ist da, die Person ist da. Ich erfinde sie nicht, ich denke sie mir nicht aus: Er oder sie ist dort. Und meine Aufgabe ist es, auch dorthin zu kommen.« Und ich dachte, ich muss auch dahin kommen. Es war ein Versuch der Annäherung an eine Mutter-Tochter Beziehung, indem ich einen anderen Kontext oder Rahmen herstelle, indem ich eine Entfernung und Limitierung mache, die ich überwinden muss. Die Tochter war ganz automatisch da als Zurückgelassene in den Umständen, die diesen Ort der Mutter imaginiert, ihr diesen Ort gibt, obwohl sie eigentlich gar nicht wissen kann, wo die Mutter ist. Ich habe also in eine irgendwie paradoxe Perspektive reinerzählt, die die Beziehung der beiden, die in Erinnerungen und Gedanken der Tochter hervorkommt, auch auf einer anderen Ebene der Erzähllogik oder eben Unlogik verhandelt.

 

Fühlst Du Dich der Figur der Tochter nahe?

Der Figur der Tochter bin ich nah in den Erfahrungen, ich kenne die Jobs und die absurden Stunden, die man in Messehallen, in Tabellen, im Abstehen von Zeit verbringt. Und das Gefühl, dass es nicht richtig ist, die Stunden als absurd zu bezeichnen, weil man sich dann selbst untergräbt. Ich kenne die Beobachtungen und Gedanken, die da kommen und eben nicht kommen. Das Gefühl vom nicht aufhören können zu arbeiten, immer den nächsten Monat im Blick, aber nie darüber hinaus. Das Gefühl, beim Geldverdienen für die eigentlichen Sachen die eigentlichen Sachen zu verpassen. Das Gefühl, dass sich etwas vielleicht doch nicht einlöst und auszahlt. Das Gefühl, dass das sowieso die falsche Herangehensweise und Sichtweise ist. Und dann war meine Aufgabe, diese Erfahrungen in eine Abfolge zu transformieren, aus der die Erzählerin immer schwerer herauskommt, und doch etwas zu öffnen, dass so etwas wie ein Ausweg sein kann, auch wenn es vielleicht ein Zusammenbruch ist.

 

Im Text ist von der »Privatisierung der Privatisierung« die Rede.

Die »Privatisierung der Privatisierung« wird mehrmals im Text beschworen und schreitet weiter fort, wird dabei wie ein Automatismus erfahren. Für die Mutter-Tochter Beziehung bedeutet das die Auseinandersetzung mit der »eigenen Schuld« an den prekären Situationen. Die Tochter hat studiert, ist formal ein Stück weitergekommen, aber sie kann damit nichts verwirklichen. Das Gefühl der Mutter, nicht genug gegeben zu haben, sodass die Tochter sich in denselben Situationen wiederfindet wie sie. Das Gefühl des persönlichen Versagens ist so groß, dass die Umstände nicht angeklagt werden können, obwohl sie durchschaut werden.

 

Dann gerät etwas zwischen den beiden in Bewegung.

Die Mutter entzieht sich plötzlich diesem Erschöpfungsstatus, und die Tochter bleibt allein in der Auseinandersetzung und verharrt zunächst weiter als stete Subunternehmerin von Subunternehmen in Aufträgen von Konzernen. Brüchige, kurzfristige Aufträge, die nie eine Sicherheit versprechen. Es ist eine Welt, die keine Zukunft mehr verspricht, die keine Rente mehr verspricht, die immer nur genau jetzt da ist. Und trotzdem bleibt alles auf diese Zukunft, die es nicht gibt, ausgerichtet, geht es immer ums Weitermachen.

 

Inwiefern spielt das Digitale eine Rolle?

Ohne das Digitale wäre der Text nicht möglich. Vor allem wäre der Ort der Mutter, der seltsame Erholungsort, nicht möglich. Nur durch eine digitale Perspektive konnte ich die Perspektive auf die Mutter schreiben, sie ist ein Zugriff und Immersion, ein anderer Ort, wie das Internet immer schon ein anderer Ort ist, andere Orte ermöglicht und herstellt, im Zusammenspiel mit konkreten Orten. Das Digitale als Mischung von Internet, Daten und Dingen in der Welt ist die Umwelt. So wie es unsere Umwelt ist, als Gleichzeitigkeit von Orten und Zeiten und Möglichkeiten, ist sie es im Buch.

 

Die Figuren im Buch arbeiten auch digital und analog

Ja, sie vermieten Wohnungen online unter und sind dann unterwegs durch die Stadt, um die Wohnungen für Gäste vorzubereiten, zu putzen, Dinge umzuräumen, Wäsche zu waschen und den Müll rauszubringen. Die Plattformarbeiten, die auf unterschiedlichen Weisen im Buch vorkommen, sind ein gutes Beispiel für das Digitale als Umwelt. Sie sind immer eine Mischung aus digitaler Steuerung, Kontrolle, Effizienzsteigerung und mit den Aufträgen verknüpfter Körperlichkeit- die Klickarbeiterin, die den Rücken und die Augen nach den Stunden am Schreibtisch zu Hause spürt. Die Mutter, die durch die Stadt hetzt, um die Airbnb-Wohnungen vorzubereiten und dabei ausrechnet, wann sich ein Busticket lohnt. Die Freundin der Erzählerin, die einen Algorithmus auf die Unterscheidung von »Hate Speech« und »No Hate Speech« trainiert und zu Hause aus den »besten« Sätzen Kunstwerke mit Kleber fabriziert. Die Erzählerin, die Videos einsortiert, während sie gleichzeitig durch die Stadt geht, über etwas stolpert, andere Frauen beobachtet, auf dem Weg zu einem anderen Job. Der Körper ist immer zugleich da und woanders beschäftigt, genauso wie die Devices.

 

Was ist das für eine Bewegung von Frauen, auf die die Tochter trifft?

Schon lange bevor die Erzählerin auf die Bewegung trifft, gibt es Zeichen von Bewegungen, dass da etwas los ist, dass da was vor sich geht. Es sind viele kleine Bewegungen, vielleicht unscheinbar, vielleicht im Detail, aber sie häufen sich. Sie sind in Beobachtungen der Erzählerin von Frauen im öffentlichen, also auch digitalen Raum. Alltägliche Szenen, in denen immer etwas ein bisschen »off« ist, oder von einem Abbruch/Bruch zeugt: mit den Regeln des Raums, mit einem bisherigen Alltag, mit den eigenen Träumereien. Je mehr sie beobachtet, desto mehr sind die Frauen dabei, aufzubrechen.

 

Wovon träumen die Frauen?

Die Gruppe formiert sich aus Notwendigkeit und in Ablehnung der Verhältnisse, in denen sie leben und arbeiten. Ihr Bündnis besteht aus der Entscheidung, dass es reicht, weil es für sie nicht reicht. Sie widersetzen sich im Aufhören und Weggehen. Ich weiß nicht, wovon sie träumen. Aber was sie gemeinsam suchen, ist eine Pause, eine Erholung und ein Woanderssein, ein selbstbestimmter Umgang mit der eigenen Lebenszeit. Die Frauen sind alle älter als die Erzählerin, manche kurz vor dem Rentenalter, in einer Zeit, in der klar ist, dass keine Rente da sein wird. Sie entscheiden in einem Lebensabschnitt etwas neu, und neu ist, dass sie überhaupt entscheiden. Manche bringen dafür Opfer, so groß ist der Wunsch, jetzt einmal für sich selbst zu sorgen.

 

Wo sollte man »Mirmar« am besten lesen, am Meer, im Garten, auf einem Schiff?

Vielleicht am besten, wenn man eigentlich ans Meer, in einen Garten oder auf ein Schiff müsste. Am besten im Bett. Am besten zwischen zwei Schichten, weil man Doppelschicht bekommen hat und die Zeit dazwischen ist länger als eine normale Pause, aber zu kurz, um irgendetwas zu erledigen. Am besten in einer Bäckereikette oder auf den Stühlen davor, wo niemand kontrolliert, ob man was bestellt. Am besten, wenn man eigentlich arbeiten müsste. Am besten, wenn man das Gefühl hat, eigentlich was anderes machen zu müssen, wenn es so viel zu erledigen gibt, dass man nicht weiß, wo man anfangen soll.

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