Ursel Allenstein über ihre Übersetzung von Tove Ditlevsens »Gesichter«
Liebe Ursel Allenstein, Sie haben nach der Kopenhagen-Trilogie jetzt den Roman »Gesichter« von Tove Ditlevsen aus dem Dänischen ins Deutsche übersetzt. Worum geht es darin?
Die Hauptfigur des Romans heißt Lise Mundus, sie ist Kinderbuchautorin und Mutter dreier Kinder. Wir begleiten Lise durch eine dramatische Schaffens- und Ehekrise, an der sie fast zerbricht: Sie hört Stimmen und kann sich nicht mehr auf die eigene Wahrnehmung verlassen. Gleichzeitig misstraut sie aber auch den Menschen, die ihr am nächsten stehen, und das nicht unberechtigt. Ein Psychiatrieaufenthalt, der für sie einen Rettungsanker darstellt, entwickelt sich zu einem grotesken Albtraum, und das liegt nicht allein an Lises getrübtem Bewusstsein – »Gesichter« wird nicht grundlos oft als das unheimlichste Buch Ditlevsens bezeichnet. Hoffnungslos ist der Roman dennoch nicht, denn er erzählt auch die Geschichte von Lises Heilung und Selbstermächtigung und hinterfragt dabei auf raffinierte Weise die scharfe Trennung von Kategorien wie Wahn und Wirklichkeit, „Verrücktheit“ und Normalität.
Zu welcher Zeit ist »Gesichter« entstanden?
»Gesichter« ist kurz nach den ersten beiden Bänden der Kopenhagen-Trilogie entstanden, im Jahr 1968, und damit vor »Abhängigkeit«, das erst 1971 erschien. Dem Entstehen dieser drei dicht aufeinanderfolgenden Bücher ging eine Phase der Schreib- und Lebenskrisen und langen Klinikaufenthalte voraus, die an Lises Schicksal erinnern. Doch es scheint, als hätte Ditlevsen erst schreibend in ihre Kindheit zurückkehren müssen, ehe sie sich an die eigene Gegenwart heranwagen konnte.
Inwiefern unterscheidet sich »Gesichter« sprachlich von »Kindheit«, »Jugend« und »Abhängigkeit«?
Ditlevsens Kunstfertigkeit zeigt sich unter anderem darin, wie sehr Thema und Stil bei ihr miteinander korrespondieren – und sich im Laufe ihres Werks übrigens auch immer wieder stark verändert haben. Während die eindeutig autobiographische Trilogie auch sprachlich von einer sehr starken Unmittelbarkeit und Nähe getragen wird und man sich den bildhaften Szenen wie mit einem Zoom nähert, ist »Gesichter« stärker fiktionalisiert, weniger unmittelbar. Die Sprache ist zwar auch bildhaft, dabei aber gewagter, expressiver, surrealer: der Wahn der Protagonistin wird so auch in der Sprache erfahrbar, als würde er darauf übergreifen.
Haben Sie einen Lieblingssatz oder ein Lieblingsbild?
Mir gefällt besonders der letzte Absatz im vierzehnten Kapitel, als sich Lise Mundus endlich auf dem Weg der Besserung befindet. Ihre Mitpatientinnen in der psychiatrischen Klinik wandeln tagein, tagaus über die Flure und stützen dabei die Wände ab, weil sie glauben, diese könnten auf sie herabfallen, und währenddessen verrinnt ihr Leben. In der besagten Szene aber verlässt Lise Mundus das Zimmer ihres ambivalenten, nicht uneingeschränkt vertrauenswürdigen Psychiaters. Auf dem Weg hinaus verliert sie – scheinbar hilflos und zerstreut – eine „staatseigene Pantoffel“, woraufhin sie sich wieder zwischen den anderen Patientinnen auf dem Flur einreiht, obwohl sie längst weiß, dass die Wände nicht einstürzen können. Indem Lise ihr „Verrücktsein“ selbst inszeniert und auch andere damit manipuliert, gewinnt sie die eigene Unabhängigkeit zurück und findet einen Weg aus der Klinik.
Porträtfoto Tove Ditlevsen
Kann man »Gesichter«, ähnlich wie die Kopenhagen-Trilogie, autobiographisch lesen?
Ja, durchaus. Tove Ditlevsen fordert uns regelrecht dazu auf, indem sie zahlreiche autobiographische Fährten legt: Beispielsweise trägt ihre Hauptfigur den Mädchennamen ihrer Mutter, und auch sonst werden Leser*innen viele Orte, Bilder und Szenen aus der Kopenhagen-Trilogie wiedererkennen. Oft korrespondiert gerade das, was man für schier unglaublich hält, mit Ditlevsens eigenem Leben.
Was ist für Sie die größte Herausforderung beim Übersetzen von Tove Ditlevsen?
Da ist zum einen die Vielseitigkeit der Autorin, bei jedem Buch stelle ich mich auf einen neuen Ton, eine neue Sprache ein, denn auch die einzelnen Bände der Trilogie unterscheiden sich diesbezüglich ja stark voneinander. In »Gesichter« war die Sprache – die expressive Bildhaftigkeit, die Wahnhaftigkeit – erst einmal ungewohnt. Die größte Herausforderung liegt für mich allerdings in der emotionalen Dringlichkeit von Ditlevsens Schreiben, der man sich kaum entziehen kann – und es als Übersetzerin auch gar nicht sollte, um auch im Deutschen eine äquivalente Wirkung und Stimmung zu erzeugen.
Können Sie uns schon sagen, wie es mit Tove Ditlevsen weitergeht? Welches Buch wird als nächstes in Ihrer Übersetzung folgen?
Als nächstes werde ich Ditlevsens letzten Roman »Vilhelms Zimmer« übersetzen – auch ein sehr wildes, atemberaubendes, abgründiges Werk.