»Sie war eine Rebellin«
»Weiter so, Tove! Zeig uns, wie langweilig normal wir heute sind.«
Lieber Jens Andersen, wenn Sie Tove Ditlevsen in einem Satz charakterisieren sollten, was würden Sie sagen?
Warum nicht in einem Wort, das wäre »transgressiv« – sowohl in Bezug auf ihr Schreiben als auch auf ihr Leben.
Auf welche Weise hat ihr Schreiben Ihre Liebe zur Literatur und Ihr Leben als Schriftsteller beeinflusst?
Durch ihre Prosa und Lyrik lernte ich in einem sehr jungen und sensiblen Alter die magische Qualität von Literatur kennen: Die umwerfende Art und Weise, wie Worte Bilder und Emotionen erzeugen können.
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Würden Sie angesichts ihrer internationalen Wiederentdeckung sagen, dass Tove Ditlevsen ihrer Zeit voraus war?
Auf jeden Fall, keine andere Schriftstellerin der skandinavischen Literatur war zu dieser Zeit wie Tove Ditlevsen. Sie mied jede Art von politischen und literarischen Cliquen und auch die feministische Bewegung in den 60er und 70ern. Sie wollte nicht »modern« sein. In gewisser Weise war Tove Ditlevsen eine Anarchistin, die für ihre eigenen Rechte und Ansichten über Sex, Selbstmord, Drogen usw. kämpfte. Ihr Individualismus war extrem und spricht daher viel mehr zu unserer Zeit. Ihre Art zu schreiben war tatsächlich autofiktional, lange bevor das Wort erfunden wurde. Wenn Sie mich fragen, ob Tove Ditlevsen heute Nobelpreisträgerin sein könnte, vielleicht anstelle von Annie Ernaux, dann lautet die Antwort: ja.
Welche der Themen, über die sie schreibt, erscheinen heute genauso dringlich wie damals?
Der rote Faden, der sich durch ihr Werk zieht – Prosa, Lyrik, journalistische Texte – ist der Kampf von Frauen zwischen Mutterschaft, Ehe, Familie und dem Verlangen nach Selbstverwirklichung und dem Bedürfnis, sich durch etwas anderes als traditionelle weibliche Rollen auszudrücken. Tove war eine Rebellin, auch wenn sie nicht Teil der feministischen Bewegung sein wollte. Sie war ihre eigene Bewegung, war fortschrittlich und provokativ mit Aussagen wie: »Wir müssen unsere Kinder bemitleiden, dass sie Kinder unzuverlässiger Mütter sind.«
Tove liebte es, aufzutreten und hatte einen überbordenden Sinn für Humor. In Ihrer Biografie beleuchten Sie auch die extravagante Seite ihrer Person. Eine Lieblingsanekdote über Tove?
Oh, ich habe so viele. Sie liebte es, zu schauspielern und zu provozieren. Meine Lieblingsanekdote stammt aus dem Jahr 1972, als Tove Ditlevsen in Dänemark »weltberühmt« war und natürlich am traditionellen Kritikerempfang ihres Verlags Gyldendal teilnahm. Wir alle kennen solche Empfänge. Anfangs sind die Leute sehr zurückhaltend, höflich und nett, sie reden leise und kultiviert, während sie an Weißwein nippen und Canapés essen. An jenem Tag war Tove von Anfang an high von Drogen und Alkohol, und sie langweilte sich auch sehr, bis sie einen Blick auf ihren dänischen Lieblingskritiker, Jens Kistrup, erhaschte. Er stand mit einigen anderen Kritikern am anderen Ende des Saals. Kistrup war ein kleiner, pummeliger Typ, der Tove an Viggo, ihren ersten Ehemann, erinnerte. Dann hörte man plötzlich Toves heisere Stimme: »Ah, da ist Jens Kistrup, der einzige dänische Kritiker, mit dem ich nicht gevögelt habe.« Tove Ditlevsen war immer auch Performerin und Provokateurin.
Welchen Ort oder welche Ecke Kopenhagens assoziieren Sie mit Tove Ditlevsens Leben?
Inneres Vesterbro, weniger als einen Kilometer vom Hauptbahnhof in Kopenhagen entfernt. Heute ist das ein sehr hipper und trendiger Stadtteil. Dort wurde Tove geboren, wuchs auf, ging zur Schule, spielte und lebte ihre »Kindheit«. Hier fand sie und vergaß sie nie »Die Straßen der Kindheit« – ein Stadtplan der Erinnerungen und Gefühle in ihrer Seele, aus dem sie für den Rest ihres Lebens immer wieder neue überraschende Bilder schöpfte. Die Straße der Kindheit war eine nie versiegende künstlerische Quelle (neben vier skandalösen Ehen und gescheiterten Versuchen, eine Familie zu gründen.)
Wenn Sie heute die Chance hätten, mit Tove zu sprechen, was würden Sie ihr sagen?
Weiter so, Tove! Zeig uns, wie langweilig normal wir heute sind.