17. Juli 2023

»Sie ist gegen den Strom geschwommen« – Brigitte Reimanns Suche nach Selbstbestimmung, Freiheit und Glück

Carsten Gansel hat die erste große, umfassende Biographie über Brigitte Reimann geschrieben. Am 21. Juli wäre die Schriftstellerin, die man mit Fug und Recht als die faszinierendste Autorin der DDR bezeichnen kann, 90 Jahre alt geworden. Die Lektorin Nele Holdack spricht mit ihm darüber, was er Neues über das Leben und Schreiben dieser Ausnahmekünstlerin in Erfahrung gebracht hat, worin sie ihrer Zeit weit voraus war und was wir gerade heute von ihr lernen können.

Brigitte Reimanns Bücher sorgen derzeit international für Aufsehen, ihr Roman »Die Geschwister« über eine Familie, die durch die deutsche Teilung Anfang der 1960er Jahre auseinandergerissen zu werden droht, wurde in diesem Jahr erstmals auf Englisch veröffentlicht. Wieso entdeckt man diese Autorin gerade jetzt wieder neu?

Porträtfoto Brigitte Reimann
Autor:in

Brigitte Reimann, geboren 1933 in Burg bei Magdeburg, war seit ihrer ersten Buchveröffentlichung freie Autorin. 1960 zog sie nach Hoyerswerda, 1968 nach Neubrandenburg.

Während der letzten 30 Jahre hat man geglaubt, alles über die DDR zu wissen. Es gibt wohl in der Geschichte kaum eine Periode, die durch Einsicht in internste Dokumente besser erschlossen werden konnte. Aber Papier ist nicht Leben, und Akten haben mit dem Alltag oft wenig zu tun. Brigitte Reimann hat mit ihren Geschichten ostdeutsche Realität auf den Punkt gebracht: Denkweisen, Gefühlslagen, politische und moralische Auffassungen gehören dazu, aber auch die Stellung zu Sexualität und Liebe. Und ganz abgesehen davon, sind viele der Fragen, die im Osten nach 1945 auf der Tagesordnung standen, nach wie vor nicht gelöst. Dies betrifft keineswegs nur die Wohnungsknappheit.

In der amerikanischen und englischen Presse wird Brigitte Reimann als Pionierin der Selbstermächtigung gefeiert, der es gelang, »die berauschende, unmögliche Verlockung Wirklichkeit werden zu lassen: die eigenen Ideale zu leben« (The New Yorker) – wie hat sie das geschafft?

Ich bin so gierig nach Leben – Brigitte Reimann
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Vor der Frage steht jede Generation neu: die »eigenen Ideale« zu finden und nach Wegen zu suchen, sie umzusetzen. Brigitte Reimann hat nie vordergründig nach »Emanzipation« gestrebt, sie hat sie einfach gelebt, als etwas ganz Natürliches und für sie Notwendiges. Daher ist sie ihren Weg als Mädchen, als Frau und als Schriftstellerin auch gegen Widerstände so konsequent gegangen wie wohl keine zweite Autorin in der DDR.

Und sie hat dafür das eigene Glück geopfert. Wobei »opfern« das falsche Wort ist, sie hat es nicht gefunden. Das hat schon etwas Tragisches. Schreiben um den Preis des Lebens! Sie hat bei dieser Suche Nachteile und Risiken in Kauf genommen und ist gegen den Strom geschwommen. Das Gerede der Leute in Burg über ihre unkonventionelle Lebensauffassung als Mädchen und junge Frau, das hat sie gekränkt, aber angepasst hat sie sich deshalb noch lange nicht, weder dort noch später in Hoyerswerda oder Neubrandenburg.

 

Auf eine beliebte Formel zurückgreifend, könnte man vielleicht sagen, Brigitte Reimanns Bücher treffen den »Nerv der Zeit«?

Unbedingt. Das hat dann nicht nur mit den erzählten Geschichten zu tun. Das Erzählte muss schon mit den Problemen in Verbindung stehen, glaube ich, mit denen sich größere Gruppen aktuell konfrontiert sehen. Wir leben in einer Zeit, in der sich alte (vermeintliche) Gewissheiten in Luft aufzulösen scheinen. Jeder steht mehr oder weniger vor der Frage, wie sie oder er damit umgeht. In ganz neuer Weise sind Engagement und Zivilcourage gefordert, aber auch das, was man Anstand nennt. Das macht Brigitte Reimann möglicherweise zu einer Bezugsperson.

 

Geboren wurde Brigitte Reimann in dem Jahr, in dem Hitler zum Reichskanzler wurde, gestorben ist sie, als sie zwar noch an die Ideale des Sozialismus glaubte, an der realen Umsetzung in der DDR jedoch längst zu zweifeln begonnen hatte, die Wiedervereinigung aber noch lange nicht in Sicht war. Wie nähert man sich als Biograph einem Leben, das in so komplexen Zusammenhängen zu sehen ist?

Du hast ein wichtiges Stichwort genannt. Man sollte versuchen, die Komplexität der Verhältnisse in den Blick zu nehmen. Und man sollte dies tun, ohne Klischees aufzutischen oder »einfache Wahrheiten«. Wenn du vom Zweifel sprichst, den Brigitte Reimann zunehmend kannte, dann muss es auch Zuversicht, Hoffnung, Optimismus gegeben haben. Das zu erzählen ist aus meiner Sicht nicht nur spannend, sondern notwendig. Wenn nämlich ein Widerspruch zustande kommt zwischen den offiziell präsentierten – nehmen wir mal dieses inflationär gebrauchte Wort – Narrativen und dem, was die vielen Einzelnen an Geschichten erinnern, dann entsteht etwas, was auf Dauer nicht ohne Folgen für das gesellschaftliche Klima bleibt, dann fühlen sich zu viele unverstanden und ungesehen. Man muss möglichst tief hinabsteigen in den Zeitschacht und die damaligen Verhältnisse authentisch zu erfassen suchen – und für heutige Betrachter verständlich machen.

 

Du hast sehr viel neues und bislang unbekanntes Material erschlossen und füllst auf diese Weise eine Reihe von Leerstellen in der Biographie von Brigitte Reimann. Kannst du einige Beispiele nennen?

Brigitte Reimann hat seit 1946 Tagebuch geführt, sämtliche dieser frühen Aufzeichnungen aber Ende der fünfziger Jahre verbrannt. Im Brigitte-Reimann-Archiv habe ich nun einige Einträge aus dem Jahr 1947 entdeckt, die sich erhalten haben, weil die Notizen auf separaten Blättern niedergeschrieben waren.

Außerdem habe ich Brigitte Reimanns frühe Laienspiele genauer untersucht. Ganz wichtig sind auch die bisher nicht wahrgenommenen Gedichte aus der Jugendzeit und nicht veröffentlichte Erzählungen aus den 1950er Jahren.

Darüber hinaus geht es auch um unbekanntes Material zu politisch brisanten Themen, etwa zum Schriftstellerverband, zu den »Arbeitsgemeinschaften junger Autoren« (AJAS), zum 17. Juni 1953 oder zu den Verhaftungen sowie Prozessen im Jahr 1956. In alle diese Ereignisse war Brigitte Reimann involviert. Und natürlich habe ich umfangreich die Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit erfasst und konnte auch hier bislang nicht in den Horizont geratenes Material auswerten.

 

Was hat dich dabei überrascht – gibt es etwas, was du jetzt anders oder differenzierter siehst als vorher?

Es war faszinierend, zu entdecken, wie Brigitte Reimann bereits als Schülerin für sich erkannt hat, dass die damals angebotenen Modelle weiblichen Lebens für sie nicht infrage kommen, und wie sie das schon in frühen Texten zum Thema gemacht hat. Überrascht hat mich, dass sie bereits Mitte der 1950er Jahre von sich aus auf das gekommen ist, was man modernes Erzählen nennt. Sie ist ihrer Zeit schlichtweg voraus. Das konnte nicht wahrgenommen werden, weil sie als junge, noch unsichere Autorin durchaus gut gemeinten Ratschlägen älterer Kollegen gefolgt ist und sich an damaligen Konventionen orientiert hat. Rückblickend aber waren die Ratschläge falsch! Schließlich ist mir mehr als einmal bewusst geworden, was für eine konsequente Arbeiterin sie war, ganz im Sinne von Goethes »Faust«, den sie bestens beherrschte: »Wer immer strebend sich bemüht ...«

 

Brigitte Reimann erscheint aus heutiger Sicht unglaublich modern und emanzipiert – in der Art und Weise, wie sie sich ihrer Arbeit verschrieben hat, den Anspruch erhob, sich gesellschaftlich einzumischen und ihrer Stimme Gehör zu verschaffen, zugleich stets nach persönlicher Freiheit und individuellem Glück strebte. Worin lag die Quelle ihrer Kraft, ihres Mutes?

Ihr Anspruch und die Art und Weise, sich einzumischen, ihre Konsequenz und auch ihre Radikalität und gelebte Autarkie, darin ist sie den meisten ihrer männlichen Kollegen voraus. Einfach auch deshalb, weil sie sich als Frau ganz anderen Widerständen ausgesetzt sah. Man muss sich vergegenwärtigen, wie wenig junge Autorinnen es in den 1950er Jahren in der DDR gegeben hat, Brigitte Reimann war eine absolute Ausnahme, finde ich. Woher sie die Kraft nahm? Schlichtweg aus dem Bewusstsein und dem Drang, schreiben zu müssen. Jemand, der seine Arbeit liebt, wird nicht an Gefühlen zugrunde gehen, so ihre Position. »Wenn ich zwei, drei gute Bücher schreibe, ist mein Privatleben dagegen einen Pfifferling wert«, steht in ihrem Tagebuch. Und es folgt die fulminante Aussage: »Nur das Werk wiegt. Die Frau, die ich im Spiegel sehe, und ihre Leidenschaften und Schlechtigkeiten haben kein Gewicht.«

 

Bis zuletzt arbeitete Brigitte Reimann an ihrem erst postum erschienenen Roman »Franziska Linkerhand«. In diesem Zusammenhang sprach sie auch von der »Spur, die man zurücklassen möchte« – etwas, was ihr zweifellos gelungen ist. Wie würdest du den Kern dieser Spur, die sich aus ihrem Werk, aber auch aus ihrem so mutig gelebten Leben bis heute zu uns weiterzieht, auf den Punkt bringen?

Dass sie so ungemein tapfer gekämpft hat und dennoch so früh starb, das macht nicht nur emotional betroffen, noch heute, mehr als 50 Jahre später. Und dass sie den Erfolg ihres großartigen »Franziska«-Romans nicht erleben konnte, das verstärkt die tragische Dimension. Aber der Roman weist in seiner gewissen Unvollendetheit symbolhaft über sich hinaus, er verweist auf das verschwundene Land, seine Anfänge, Visionen, Restriktionen und vor allem auf seine Menschen, die die Geschichten – wie auch immer – mit und in sich tragen.

Und neben den Texten ist da die Persönlichkeit einer Frau und Autorin, die sich stets treu blieb und eine Art Selbstverpflichtung lebte: »Nur nicht schweigen, nur nicht schweigend Falsches mit ansehen, und dadurch es billigen.«

 

Gestorben ist Brigitte Reimann vor 50 Jahren, am 20. Februar 1973 in Berlin-Buch, an den Folgen ihrer Brustkrebserkrankung. Sie wurde 39 Jahre alt.

Porträtfoto Carsten Gansel
Autor:in, Herausgeber:in

Carsten Gansel, geboren 1955, seit 1995 Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Gießen.

Carsten Gansel, geboren 1955 in Güstrow/Mecklenburg, seit 1995 Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Gießen. Als Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen verantwortete er u. a. die Neuausgabe von Heinrich Gerlachs »Durchbruch bei Stalingrad« (2016), die international für Aufsehen sorgte. Er lebt in Neubrandenburg, wo auch Brigitte Reimann zuletzt wohnte, und beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit ihrem Werk und der DDR-Literatur im Allgemeinen.

Brigitte Reimann-Plakat zum Download

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