»Der Antidiktator, der bis ins kleinste Detail grundsätzliche Demokrat«

Seit Salvador Allendes Präsidentschaft in Chile begann, sind mehr als 50 Jahre vergangen. 1970 wurde er in freien, demokratischen Wahlen ins Amt gewählt – eine große Ausnahme im sozialistischen Lager, wenn man ihn überhaupt dazuzählen möchte –, drei Jahre später, am 11. September 1973, putschte General Pinochet mit Hilfe der CIA gegen ihn, und Allende nahm sich noch am selben Tag das Leben. Was macht den Mythos Allende aus? Und was ist das Spannende an Salvador Allendes Biografie?
Kurz gesagt: seine Hartnäckigkeit und sein unbedingter Wille zur Demokratie. Die Diskussionsbereitschaft auch mit politischen Gegnern. Allende war ein Politiker, den wir heute vielleicht sehr nötig hätten: jemand, der mit Mut und Überzeugungskraft für seine Ideen eintritt, der von einer besseren Zukunft für möglichst alle Menschen träumt, sich gemeinsam mit ihnen überlegt, wie er dorthin gelangt, und der gemeinsam mit ihnen versucht, diese Ziele zu verwirklichen. Einer, der nicht aufgibt, wenn er keine Mehrheit findet, sondern weiter für seine Ziele streitet, der radikal demokratisch und partizipativ denkt. Allende war, wie Pablo Neruda schrieb, »der Antidiktator, der bis ins kleinste Detail grundsätzliche Demokrat«. Ein Politiker, der Kompromisse einging, aber seine Haltungen nicht verriet.
Das Spannende an seiner Biografie ist nachzuempfinden, wie er zu dem wurde, der er war. Und in seinem Leben spiegelt sich die chilenische Geschichte, in dem seiner Familie ebenso – inklusive ihrer ganzen Tragik. Jede und jeder verhält sich zu ihm: In seinem Buch »Das Abenteuer des Miguel Littín. Illegal in Chile« berichtet Gabriel García Márquez über den illegalen Aufenthalt des Filmemachers Miguel Littín im Frühjahr 1985 in Chile und dessen geheime Dreharbeiten zu einem Dokumentarfilm: »In einem Haus, wo ein Bild der Virgen del Carmen an der Wand hin«, schreibt er, »fragten wir die Frau des Hauses, ob sie eine Anhängerin Allendes gewesen sei, und sie antwortete uns: ‚Ich war es nicht: ich bin es.‘ Dann nahm sie das Bildnis der Jungfrau ab, und dahinter hing ein Porträt Allendes.«
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Nach dem Putsch kamen viele Exilanten sowohl in die DDR als auch in die Bundesrepublik. Welche Verbindungen zwischen Chile und Deutschland gibt es bis heute?
Sehr viele und sehr unterschiedliche. Die Deutschen haben in der chilenischen Geschichte schon immer eine große Rolle gespielt. Deutsche organisierten im 19. Jahrhundert das chilenische Militär, und die Einwanderer, die ab Mitte des 19. Jahrhunderts kamen, prägten den chilenischen Süden. Sie besiedelten das Land, das der indigenen Bevölkerung mit Gewalt abgenommen wurde, und erbauten Dörfer, die sehr klischeehaft deutsch aussahen, mit Kirchen wie in Puerto Varas, deren Vorbilder im Schwarzwald standen.
Deutschen Ursprungs war auch die Colonia Dignidad, die 1961 von Paul Schäfer gegründet wurde, in der systematisch Minderjährige sexuell missbraucht wurden und die während der Pinochet-Diktatur als Folterzentrum diente.
Nach dem Militärputsch gegen die Allende-Regierung nahmen beide deutsche Staaten politische Flüchtlinge aus Chile auf – in die Bundesrepublik und nach West-Berlin kamen fast 4000 Menschen, in die DDR etwa 2000. Der Schriftsteller und spätere chilenische Botschafter in Deutschland Antonio Skármeta ging beispielsweise nach West-Berlin ins Exil. Michelle Bachelet, von 2006 bis 2010 sowie von 2014 bis 2018 amtierende Präsidentin Chiles, war in die DDR geflüchtet, wo sie Medizin studierte.
Bis 1990 blieb der Militärdiktator Augusto Pinochet an der Macht. Diese und die weitere politische Entwicklung scheinen wir hier in Mitteleuropa nicht so sehr im Blick gehabt zu haben. Warum sollte uns Chile heute wieder interessieren?
Chile wurde von den Befürwortern lange als Musterland des Neoliberalismus gefeiert. In kaum einem Land wurde das neoliberale Wirtschaftsmodell so konsequent umgesetzt wie im Chile der Diktatur. Auch die demokratischen Regierungen nach dem Ende der Diktatur hatten nur wenig Spielraum, das zu ändern – es waren breite Bündnisse mit unterschiedlichen Vorstellungen, und zudem ließ die unter Pinochet verabschiedete und heute noch in weiten Teilen gültige Verfassung kaum Möglichkeiten, die Wirtschaftspolitik grundlegend zu ändern.
Man sieht aber heute, dass das neoliberale Modell nicht funktioniert hat. Die soziale Ungleichheit im Land ist riesig, und die Unruhen, die sich 2019 an einer geringen Fahrpreiserhöhung von 30 Pesos entzündeten und schnell zum Flächenbrand wurden, standen nicht umsonst unter dem Motto: »Es sind nicht 30 Pesos, sondern 30 Jahre!« 30 Jahre Neoliberalismus, die es zu überwinden gilt und die die neue Regierung, die erste eines fortschrittlichen Bündnisses seit der Regierung Allende, überwinden will. Dafür wurde Gabriel Boric zum Präsidenten gewählt, der dann mit Maya Fernández Allende eine Enkelin Salvador Allendes zur Verteidigungsministerin machte. Trotz aller Schwierigkeiten könnte Chile zum Modell in Lateinamerika werden.
Und wir können lernen, wie Generationen über das Unrecht, das ihnen zugefügt wurde, ins Gespräch kommen: Im »Museo de la Memoria y los Derechos Humanos« (Museum der Erinnerung und der Menschenrechte) in Santiago sprechen Eltern oder Großeltern mit Kindern oder Enkeln, manche weinen um Tote und Vermisste, überwältigt von Erinnerungen. Ein Ort der Trauer, auch für diejenigen, die ansonsten keinen mehr haben, die nicht wissen, was mit Freunden oder Verwandten passierte. »Donde estan?« (Wo sind sie?), ist an vielen Orten Santiagos noch zu lesen – wo sind sie, die Menschen, die während der Diktatur einfach verschwanden?