10. Sep 2024

Als Charles Dickens mit dem Zug verunglückte

In »111 Actionszenen der Weltliteratur« erleben wir große Autorinnen und Autoren hautnah und in Farbe: als Tolstoi von einem Bären gebissen wurde und als Mary Shelley ihr Monster traf. Dieser Band versammelt die besten Geschichten aus der Kultserie der Literarischen Welt, illustriert von Paul Fretter und gestaltet von Manja Hellpap. Hier von Wieland Freund in die Hauptrolle gesetzt: Charles Dickens. ACTION!

Am 9. Juni 1865 sitzt Charles Dickens im Zug nach London. Dann fehlen auf einer Brücke die Gleise, der Zug stürzt ab. Dickens bleibt unverletzt, er hat ein anderes Problem: Im Zug ist sein größtes Geheimnis.

Am Nachmittag des 9. Juni 1865 rattert Charles Dickens auf London zu. Aus Frankreich kommend – er ist zuletzt sehr häufig in Frankreich gewesen, im Januar, im März, Ende April und zuletzt seit Ende Mai –, hat er in Folkestone einen sogenannten Tidal bestiegen, einen jener Züge, deren Fahrplan sich noch nach den Gezeiten richtet.

Natürlich sitzt Dickens (53) in einem Erste-Klasse-Abteil, gemeinsam mit der Schauspielerin Ellen, genannt Nelly Ternan (26), und Mrs Ternan, Nellys Mutter. Mit an Bord ist auch das Manuskript des erst seit Mai in den üblichen Fortsetzungen erscheinenden Romans Unser gemeinsamer Freund, in dem Nelly Ternan als kapriziöse Bella Wilfer eine nicht nur schmeichelhafte Rolle spielt. Und vermutlich herrscht auch an diesem Nachmittag in Dickens’ Abteil eher dicke Luft. Anders lässt sich der von Nelly überlieferte Satz »Lasst uns an den Händen fassen und als Freunde sterben« kaum erklären. Der Satz fällt kurz nach drei auf der Eisenbahnbrücke über den Beult, während der Tidal entgleist, weil da plötzlich gar keine Gleise mehr sind. Lok, Tender und ein Gepäckwagen schießen über die Schwellen, der Waggon mit Dickens, Nelly und Mrs. Ternan bleibt noch irgendwie an der Brücke hängen, viele der folgenden Waggons jedoch stürzen in den Fluss.

111 Actionszenen der Weltliteratur
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Eine Verkettung menschlicher Fehler – falsch übermittelte Abfahrtszeiten, falsche Abstände bei den Telegraphenmasten, an denen sich ein Bauarbeiter mit Signalflagge orientiert – hat den Zug mit hoher Geschwindigkeit in eine Baustelle rasen lassen. Zehn Insassen sterben, vierzig tragen Verletzungen davon.

Dickens, unverletzt, aber gichtkrank, verlässt das Abteil durch das Fenster. Eine zeitgenössische Illustration zeigt ihn sogleich bei den Opfern, denen er seinen Brandy und einen Hut voll Wasser reicht. Ganz gewiss hat er einen Schock erlitten – eine Reaktion, über die sich die mobilisierte Gesellschaft gerade zum ersten Mal Gedanken macht. Jedenfalls mag er an den schrecklichen Unfall bald schon nicht mehr erinnert werden. »Ich möchte nicht während der gerichtlichen Untersuchung aussagen müssen«, teilt er wenig später brieflich mit. »Ich würde … wahrscheinlich nur zu mir selber sprechen können.«

Daran allerdings ist nicht der Schock alleine schuld. Und Nelly Ternan fehlt auch nicht umsonst auf den Bildern, die den mitfühlenden Dickens bei den bedauernswerten Opfern zeigen. In Wahrheit zerrt man sie, leicht an Arm und Hals verletzt, eilig aus dem Zug, wobei sie auch noch Teile ihres Schmucks einbüßt, und schafft sie fort, bevor die Presse Wind bekommt. Denn natürlich verbindet sie und Dickens, den berühmtesten Schriftsteller der Welt, keine platonische Freundschaft, wie Dickens stur behauptet; natürlich hat er seine Frau Catherine auch nicht wegen häuslicher Differenzen verstoßen; und natürlich ist er zuletzt auch nicht einfach so alle vier Wochen nach Frankreich gereist. Stattdessen hat er, nach allem, was sich heute noch erschließen lässt, Nelly in höchster viktorianischer Not dorthin geschafft. Tatsächlich taucht Nelly erst mit dem Zugunglück von Staplehurst überhaupt wieder auf – die drei Jahre davor liegen für die Dickens-Forschung im Dunkeln. Wahrscheinlich aber ist, dass Dickens’ und Nelly Ternans gemeinsamer Sohn wenige Wochen vor dem Zugunglück in einem Versteck in Frankreich gestorben ist.

Dickens übrigens kletterte nach dem Unglück noch einmal in das zerstörte Abteil und rettete sein Manuskript. Unser gemeinsamer Freund wird der letzte Roman sein, den er vollendet, und vielleicht geht es nicht von ungefähr um lauter falsche Identitäten darin.

– Wieland Freund

Als Originalausgabe und Extradruck erhältlich

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