Die Wahrheit über die britische Kolonialherrschaft in Indien
Und was hat das alles mit uns zu tun?
Ein Auszug aus dem Nachwort von Mithu Sanyal
Eigentlich wollte ich so anfangen:
In England wird gefühlt einmal im Jahr in den Medien diskutiert, ob das Empire nun eher gut oder schlecht war. Und immer kommt dabei heraus, dass es, wenn wir alles bedenken, wirklich alles, also unterm Strich – eine gute Sache war. Auf der einen Seite 165 Millionen Tote, auf der anderen Seite hat die Britische Krone nun den Koh-i-Noor. Alles ist relativ. Aber das ist Twitter-Rhetorik. Und 165 000 000 Tote sind nicht vorstellbar, und es ist so lange her und so weit weg. Und was hat das alles mit uns zu tun? Das Problem mit Kolonialismus ist, dass seine Auswirkungen zwar überall sind – sie reichen bis hinein in die banalsten Alltagsverrichtungen: So gehe ich mindestens einmal in der Woche bei Edeka einkaufen, was eine Abkürzung ist für »Einkaufsgenossenschaft der Kolonialwarenhändler« –, trotzdem scheinen sie in einer ganz merkwürdigen Form unsichtbar zu sein.
Also entschied ich mich, so anzufangen:
Als ich klein war und die Welt groß, gab es drei davon: die erste, die zweite und die dritte Welt. Mein Vater kam aus der dritten – sprich: drittklassigen – Welt. Wenn ich etwas über Indien auf Plakaten oder in Zeitungen las, dann mit der Überschrift: »Reis für Indien«. Indien war arm. Großbritannien war reich. Die afrikanischen Länder waren arm, Frankreich und Deutschland waren reich etc. Dabei müsste Afrika der reichste Kontinent der Welt sein, schließlich befindet sich dort ein Drittel aller Bodenschätze. Und Indien war sogar einmal das reichste Land. Doch in meiner Kindheit wunderte sich niemand darüber, dass es nun umgekehrt war. Ganz im Gegenteil: Es war genauso normal, wie es normal war, diesen Ländern »Entwicklungshilfe« zu geben, damit sie irgendwann, wenn sie sich anstrengten, einmal genauso entwickelt sein könnten wie die erste Welt. Das hört sich nicht zufällig so an wie: genauso zivilisiert wie die weiße Welt.
Man könnte einwenden, das sei eine tendenziöse Lesart, schließlich geht es hier doch nur um Hilfe bei industrieller und wirtschaftlicher Entwicklung. Ach ja? Warum hatten die Briten in Indien dann erst einmal gezielt die Wirtschaft zerstört? Warum setzt Frankreich noch heute »die Plünderung [der afrikanischen] Ressourcen … mittels unausgewogener Verträge über Rohstoffnutzung [fort], mittels ungleichen Tausches und illegaler Kapitalflüsse, deren Volumen dem der Auslandsdirektinvestitionen und Entwicklungshilfezurückzahlungen entspricht, die den Kontinent verlassen«? So zeichnet es der Professor für Ökonomie Felwine Sarr nach, weshalb er von einer »wirtschaftlichen Rekolonialisierung der Länder durch ihre ehemaligen Kolonialmächte« spricht.
Oder so:
Ich versuche immer noch zu begreifen, was es für meinen Vater bedeutete, als subject of the British Empire geboren zu sein. 1943 erlebte er als Kind, wie die Menschen auf den Straßen verhungerten: vier Millionen Menschen, weil die Inder für England in den Zweiten Weltkrieg ziehen und Ressourcen für den Krieg bereitstellen mussten, die Briten Militärbasen auf landwirtschaftlich genutzten Flächen errichteten, Fischerboote konfiszierten und die kriegsbedingte Inflation dazu führte, dass die Bengal:innen nicht genug Geld hatten, um Reis zu kaufen, was – aufgrund der mangelnden Nachfrage – dazu führte, dass auch kein Reis mehr nach Bengalen importiert wurde. Er war zwölf oder dreizehn, vielleicht auch vierzehn (noch immer haben in Indien ein gutes Drittel aller Kinder keine Geburtsurkunde), als Indien 1947 seine Unabhängigkeit erkämpfte. Der Preis dafür war die Teilung des Landes in Indien und Pakistan. Weniger bekannt ist, dass Bengalen, der Bundesstaat, in dem mein Vater aufwuchs, ebenfalls geteilt und Ost-Bengalen Pakistan zugeschlagen wurde, obwohl Pakistan durch die ganze Landmasse Indiens von Bengalen getrennt ist. 1971, in dem Jahr, in dem ich geboren wurde, verübte das pakistanische Militär einen Genozid in dem Land, das ursprünglich Ost-Bengalen war, zu Ost-Pakistan wurde und seit seiner Unabhängigkeit Bangladesch heißt. Die Vergangenheit ist nicht nur näher als man denkt, sondern wirkt auch immer noch nach.
Als ich so alt war wie mein Vater zu dem Zeitpunkt, als Indien unabhängig wurde, machte meine Mutter ihr Abitur an der Abendschule. Eines Abends kam sie in die Klasse und las, was ihr Geschichtslehrer an die Tafel geschrieben hatte: »Die Engländer haben den Indern die Kultur gebracht.« Meine Mutter, einer der konfliktscheusten Menschen, die ich kenne, ging in die Luft.
Aber zumindest erwähnte ihr Geschichtslehrer, dass es Kolonialismus gab. Das Gymnasium in Düsseldorf, das ich von 1981 bis 1990 besuchte, erwähnte Kolonialismus mit keinem Wort. Vielleicht war das auch ganz gut so, da alles, was uns unser Geschichtslehrer über die Versklavung von Menschen beibrachte, sich in drei Sätzen erschöpfte: »Wie macht man einen neuen Sklaven? Man hat mit einer Sklavin Sex. Das ist ja ganz entspannend abends nach der harten Arbeit auf der Plantage.« Ich schwöre, ich habe mir das nicht ausgedacht.
Anstelle von Geschichtsunterricht gab es Fernsehen, die Serien, die wir schauten – Roots, Fackeln im Sturm und, vollkommen schräg, Die Sklavin Isaura, besser bekannt als »Die weiße Sklavin« –, brachten uns bei, dass Versklavung zwar böse, aber vor allem etwas war, das es nur im fernen Amerika gegeben und das nichts mit uns hier in Deutschland und Europa zu tun hatte.
Oder so:
Und dann recherchierte mein Mann 2015 im Internet, ob seine Familie auch Menschen versklavt hatte. Mein Mann ist Engländer, und die Briten haben ein Online-Register, in dem man das nachschauen kann. Ich sagte irgendetwas wie: »WTF?« Und er erklärte mir, dass diese Listen entstanden waren, weil Großbritannien nach dem Verbot der Versklavung 1835 Wiedergutmachungen gezahlt hatte. Ich war beeindruckt, bis ich erfuhr, dass diese Gelder nicht an die Menschen, die versklavt worden waren, gegangen sind, sondern an die »Sklavenhalter«, die ja nun »Eigentum« verloren hatten. Insgesamt 200 Millionen Pfund – oder nach heutigem Wert: 17 Milliarden Pfund; so viel Geld, dass Großbritannien dafür einen Kredit aufnehmen musste, den es 180 Jahre lang abbezahlte. Als Großbritannien 2015 endlich damit fertig war, tweetete UK Treasury stolz: »Millionen von Ihnen haben mit ihren Steuern zur Beendigung des Sklavenhandels beigetragen.« Nein! Die britischen Steuerzahler:innen hatten Menschen alimentiert, die aus der Ausbeutung anderer Menschen Profit geschlagen hatten. Und die »Befreiten« mussten nach 1835 noch weitere sechs Jahre für ihre ehemaligen »Besitzer« arbeiten: 45 Stunden die Woche, ohne Bezahlung! Dieses fehlende Wissen darüber, wie Kolonialismus unsere Sicht auf die Welt und vor allem auf die ehemals Kolonialisierten prägt, führt dazu, dass wir koloniale Narrative mit ermüdender Regelmäßigkeit reproduzieren.