08. Juli 2024

»Die Welt möge sehen, wie die Damen weit besseren Nutzen aus ihren Reisen zu ziehen wissen«

Wie sieht Italien aus, wenn einmal die Frauen berichten? Diese Frage stellen sich Constanze Neumann und Petra Müller in diesem Auszug aus dem Nachwort ihrer vielstimmigen weiblichen Reiseverführung »Ciao Italia!«. Die Anthologie wurde von Patrizia Di Stefano gestaltet.

Bella Italia, Bel Paese, Dolce Vita, Dolce far niente: Mit dem »Land, wo die Zitronen blühn«, verbinden wir spätestens seit Goethe die schillerndsten Sehnsuchtsbilder. Seine »Italienische Reise« von 1786 bis 1788 ist zum Vorbild für Generationen von Künstlern, Dichtern und Gelehrten geworden. Bereits im 18. Jahrhundert entstehen die ersten Künstlerkolonien, und die Italienreise avanciert für gebildete junge Europäer als »Grand Tour« oder »Kavaliersreise« zu einem obligatorischen Element klassischer Bildung. Florenz, Rom und Venedig muss man(n) gesehen haben!

 

Und die Frauen?

Im Kanon der Reiseliteratur sind sie, wenn überhaupt, nur spärlich vertreten. Sie stehen im Schatten der großen Namen, die – von Winckelmann über Goethe, Stendhal, Byron bis Thomas Mann – unser Italienbild geprägt haben. Dabei sind ihre Berichte genauso interessant wie die ihrer männlichen Zeitgenossen, ihre Schilderungen von Kunst und Architektur nicht weniger kenntnisreich, obwohl sie, selbst die höheren Töchter unter ihnen, bei Weitem nicht den gleichen Zugang zu Bildung hatten.

 

Höchste Zeit, den weiblichen Stimmen im Chor der Berichterstatter eine Bühne zu geben.

Ciao Italia!
Empfehlung
Band 475 (2024)
Originalausgabe
48,00 €

In dieser Anthologie sind zwanzig sehr unterschiedliche Autorinnen aus vier Jahrhunderten vertreten, die exemplarisch für die überraschende Vielzahl an Frauen stehen, die seit dem frühen 18. Jahrhundert nach Italien gereist sind und davon berichtet haben. Die Texte stammen aus Reportagen, Essays, Reisebriefen und Tagebüchern, aber auch aus Erzählbänden und Romanen. Aristokratinnen kommen zu Wort, eine Hofdame, einige Schauspielerinnen, eine Komponistin und naturgemäß gleich mehrere Journalistinnen und Schriftstellerinnen.

 

Als Lesende unternehmen wir mit diesem Band selbst eine kleine Reise, quer durch das Land und die Jahrhunderte, mit dem weiblichen Blick als verbindendes Element dieser Zusammenstellung.

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»Die Portici erscheinen wie ein Lied mit vielen Strophen« – Christine Wolter

Denn natürlich reisen Frauen anders. Schon allein deshalb, weil sie damit bis ins 19. Jahrhundert in eine typische Männerdomäne vordringen. Traditionsgemäß fällt ihnen die Rolle der Hüterin von Haus, Hof und Kindern zu, während die Männer hinausziehen in die große weite Welt. Eine »Reisende in Röcken« ist jahrhundertelang eine Ausnahmeerscheinung, die kritisch beäugt oder sogar verunglimpft wird und ohne die Zustimmung von Vätern oder Ehemännern gar nicht erst aufbrechen darf. Erforderliche Papiere und Empfehlungsschreiben, aber vor allem auch die nötigen finanziellen Mittel sind für sie viel schwieriger zu besorgen. Nicht selten sind es die Berichte selbst, mit denen sie ihre Reisen finanzieren.

Mit dem Aufbruch in fremde Welten verlassen die Frauen den ihnen zugedachten Platz in der Gesellschaft und wagen sich im doppelten Sinne auf Neuland. Mit einer beeindruckenden Unerschrockenheit trotzen sie allen Unsicherheiten, Beschwerlichkeiten und Gefahren. Und viel eher sind sie es, die sich um die mitreisenden (Ehe-)Männer kümmern, als umgekehrt.

Auch die Frauen fühlen sich – wie die Texte zeigen – von den Attraktionen der »Grand Tour« angezogen und wollen die Zeugnisse von Antike und Renaissance mit eigenen Augen sehen. Sie sind bezaubert vom Glanz der sich ihnen darbietenden Kunst in Museen, Klöstern, Kirchen und Palästen, sie entdecken »malerische und feenhafte Umgebungen« (George Sand), das »blaueste aller Meere« (Fanny Hensel) und »poetische Wunder« (Fanny Lewald). Sie geben dem sinnlichen Erleben viel Raum und sparen nicht mit dem Ausdruck leidenschaftlicher Begeisterung. Sie verlieben sich wie Virginia Woolf »Hals über Kopf« in Land und Leute, ohne deshalb blind vor Liebe zu sein.

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»Wie Neapel aussehen würde, wenn es eine Frau wäre« – Antonia Baum

Die Unvollkommenheiten, die politischen Missstände und die Schattenseiten der gesellschaftlichen Verhältnisse in dem bis zum Risorgimento im Jahr 1860/61 zersplitterten Land sind Teil ihrer Auseinandersetzung. Sie sind Zeitzeugen des Wandels und erleben die heute vertrauten Orte unter völlig anderen politischen Vorzeichen: unter der Vorherrschaft der Franzosen oder Österreicher, mit den Auswirkungen des Ersten Weltkriegs oder den Vorboten des Faschismus. Die »lebhafteste Freude« der Unternehmungen, so Cosima Wagner, wird getrübt durch die Armut auf der Straße. »Kein Wort über Politik, sonst gäbe es viele und böse Worte«, schreibt indes Erika Mann in den 1930er-Jahren.

 

Die Texte über die Jahrhunderte hinweg sind reich an Parallelen wie an Unterschieden.

 

Für George Sand ist Venedig die Stadt ihrer Träume, für Fanny Lewald kein Ort, an dem sie den »Aufenthalt für längere Zeit ertragen oder erwählen würde«. Virginia Woolf kann sich vorstellen, zwischen Schafherden und Olivenhainen zu sterben und schlägt ihrer Schwester Vanessa Bell die »Gründung einer Kolonie von Betagten« vor.

Auch die Schattenseiten gehören zu Italien, heute nicht anders als im Laufe der Geschichte. Und dennoch: Es gibt in diesem wunderbaren Land noch viel zu entdecken und immer wieder Gründe, aufzubrechen und zu sagen: »Ciao Italia!« – um am Lido von Venedig einen »magischen Umsturz aller Farben dem Fabelreiche entnommen« zu erleben (Annette Kolb), eine Schifffahrt »bei Sternenregen und Meeresleuchten« zu unternehmen (Cosima Wagner), für eine Portion »Lecka Spaghetti« oder ein Glas »Asti spumante mit Schlacksahne« (Sybille Bedford) oder einfach für einen »reservierten Liegestuhl«, »warmen Sand und regelmäßige Mahlzeiten« (Eva Menasse) – als Zuflucht im wilden Lärmen der Welt da draußen.

Bella Italia – Dolce Far Niente, imposante Kathedralen, Adria-Strände und gutes Essen

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