Der »homo sovieticus« wurde Knetmasse in Putins Händen
Der Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine jährt sich im Februar 2024 zum zweiten Mal. Putin ging anfangs davon aus, das Land im Handstreich erobern zu können. Daraus wurde nichts. Im Gegenteil, mit Prigoschins Revolte im Juni 2023 geriet Putins Machtgefüge für einen Augenblick ins Wanken. Die gegenwärtig wieder stärker werdenden Raketenangriff Russlands auf die Ukraine erscheinen als neuerliche Machtdemonstration des Kreml-Herrn. Verzweiflung oder Siegesgewissheit – was steckt dahinter?
Militärisch wird an mindestens zwei Fronten gekämpft. Am Boden sollen immer größere Gebiete der Ukraine erobert werden und mit den Raketen- und Drohnenangriffen wird die ukrainische Bevölkerung terrorisiert. Sie soll sich ergeben. Mit ihrem massiven Widerstand hat Putin nicht gerechnet. Auf der anderen Seite ist der Krieg für ihn von Vorteil, weil das Kriegsrecht, das de facto auch in Russland herrscht, jeden innenpolitischen Widerstand gegen ihn ausschaltet. Er kann sich dank des Krieges einfacher an der Macht halten.
Was halten Russinnen und Russen vom Krieg gegen das Nachbarland?
Widerstand, den ohnehin nur eine verschwindend kleine Gruppe in der Bevölkerung leisten würde, ist lebensgefährlich, denn er wird mit langen Haftstrafen geahndet. Die Mehrheit nimmt den Krieg eher hin, als dass sie ihn begrüßt. Auffällig ist der zunehmend trotzige Ton, der sich in die Stimmung gemischt hat. Tenor: Schlimmer als Krieg ist nur ein verlorener Krieg. Es sei ein Fehler gewesen, den Krieg anzufangen, aber jetzt müsse man ihn gewinnen, sonst würden die Russen den Kummer der Besiegten erleiden. Eine Niederlage Russlands wird als nationale Demütigung verstanden. Auch die Vorstellung, jahrzehntelang Reparationen zahlen und womöglich die Atomwaffen abgeben zu müssen, schreckt viele Russinnen und Russen ab. Ebenso der Prestigeverlust, auf der Verliererseite zu stehen und geächtet zu werden.
Eines der Kapitel in ihrem neuen Buch »Was wird aus Russland?« heißt »Die sedierte Gesellschaft«. Was bedeutet das in Bezug auf Russland?
Nach dem Ende der UdSSR blieb der »homo sovieticus«, der sogenannte Sowjetmensch, erhalten. Dieser Menschentyp fügt sich stets ein, ganz gleich unter welcher Ideologie, oder ganz ohne sie, und stellt so die Kaderreserve für das nächste totalitäre System. Die Mehrheit der Russen und Russinnen hat dieses Verhalten bis heute verinnerlicht, deswegen ist es leicht, sie in einem Zwangssystem zu halten. Sie begehren nicht auf, sie hinterfragen nichts. Dass der homo sovieticus nicht verschwand, hat damit zu tun, dass Gorbatschows Glasnost und Perestroika – Transparenz und Umbau – nur eine kleine Gruppe von Gebildeten und Engagierten euphorisierte. Zudem wurden die Reformen unter Präsident Boris Jelzin durch eine tiefe Wirtschaftskrise und in der darauffolgenden Verarmung der Massen erstickt – während sich die ersten Oligarchen maßlos bereicherten. Die Demokratie als Gesellschaftsmodell geriet in Verruf, noch ehe sie errichtet war. Die Menschen reagierten mit Zynismus, viele sind noch heute wie gelähmt.
Das posttotalitäre autoritäre Regime setzte auf die Fügsamen, Gleichgültigen, Antriebslosen, denen Putin nicht einmal eine neue Zukunftsvision präsentieren musste. Der homo sovieticus wurde Knetmasse in seinen Händen. Er diskreditierte die Menschenrechte und die bürgerlichen Freiheiten, propagierte Ordnung, Orthodoxie, Konservatismus, Militarismus und die Rückkehr der Großmacht Russland auf die Weltbühne. Wenn man überhaupt von einer Ideologie Putins sprechen kann, dann wird sie bestimmt von der »Fremdheit der westlichen Kultur«.
Lew Gudkow, der seit vielen Jahren für das berühmte Lewada-Institut forscht und einer der wenigen unabhängigen russischen Soziologen ist, konstatiert eine zunehmende Demoralisierung der gebildeten Schichten, einen Zynismus der Elite und deren inneren Verfall. Fast alle in der Gesellschaft legen eine vorgeheuchelte Bereitschaft an den Tag, sich um die Staatsmacht zu scharen, die unablässig die Angst vor einer militärischen Bedrohung von außen schürt. Die Bevölkerung hat keine Kontrolle über Regierung und Behörden, kann sich ihnen nicht mehr widersetzen. Damit einher geht eine kollektive intellektuelle, moralische und sogar religiöse Trägheit. Die Menschen waren und sind nicht in der Lage, sich eine bessere Gesellschaft und ein besseres Leben vorzustellen oder gar daran zu arbeiten. Als ›besser‹ gilt allenfalls eine Konsumsteigerung. Der fehlende Glaube an ein besseres Leben und die Erosion aller Werte wirken auf die Moral wie ein HIV-Virus, sagt Gudkow. Sie zerstören das Immunsystem, das vor Gewalt und Demagogie schützt.
Der Ausgang des Krieges gegen die Ukraine, wird entscheidend dafür sein, ob Putin seinen Kurs fortsetzen kann. Wobei ein Sieg seinen Machtapparat sicher stabilisieren würde. Welches Szenario wäre im Falle einer Niederlage denkbar? Gäbe sie Anlass zur Hoffnung auf einen Nachfolger, der Russland mehr Freiheit und der Welt mehr Frieden beschert?
Leider deutet wenig darauf hin, dass die demokratische Opposition eine solche Wende bewerkstelligen könnte. Das liegt nicht nur an ihrer Schwäche, an der nicht die liberalen Kräfte Schuld sind, sondern die jahrzehntelange Unterdrückung durch Putins Regime. Die Opposition im Ausland spricht nicht mit einer Stimme, im Inland ist sie aus Angst vor Repressalien kaum wahrnehmbar. Das größte Problem ist jedoch der Mafiastaat, zu dem Putin und seine Clique das Land umgebaut haben. Geheimdienste und bewaffnete Organe haben sich die Wirtschaft unter den Nagel gerissen und unterworfen. Sie kontrollieren die gesamte Gesellschaft. Hinzu kommen etliche Privatarmeen, die für beliebige Zwecke angeheuert werden können. Diese Allianz aufzubrechen, wäre eine Herkulesaufgabe. Viel mehr ist anzunehmen, dass Putin weiter regiert oder von der derzeit herrschenden Clique durch eine leicht lenkbare Figur ersetzt wird. Machtkämpfe um Vermögen und Pfründe könnten folgen. Aber ein wirklicher Umbruch wäre eine Überraschung.