Özgür Özvatan über migrantische Deutsche als politische Kraft

Jede Stimme zählt
Von Demokraten unterschätzt, von Populisten umworben: migrantische Deutsche als politische Kraft
Nach der Wahl ist vor der Wahl. Sie haben ein Buch darüber geschrieben, dass Migrant:innen als politische Kraft zu wenig wahrgenommen werden. Was bedeutet das in Bezug auf die Ergebnisse der Bundestagswahl 2025?
Menschen mit Migrationshintergrund sind überwiegend in der politischen Mitte verortet, ein spezifisches Angebot von den entsprechenden Parteien erhalten sie dort aber nicht. Sie werden in politischen Sachfragen und bezüglich ihrer Identität als Menschen mit bestimmten Herkunftsbezügen nicht ernst genug genommen. Die SPD hat aus historischen Gründen beispielsweise ein besonders großes Potenzial bei der Gastarbeiter:innen-Generationen, speziell bei Menschen aus der Türkei und der MENA-Region. Während das Wählerpotenzial hier bei gut 60 Prozent liegt, hat die SPD bei der Bundestagswahl 2025 nicht einmal die Hälfte dieses Potenzials ausschöpfen können. Hätte sie das getan, wäre sie wohl zweitstärkste Kraft geworden.
In Ihrem Buch formulieren Sie die Befürchtung, dass die jahrelange Ignoranz demokratischer Parteien gegenüber migrantischen Communitys rechtsextremen und populistischen Akteuren in die Hände spielt. Warum ist das so?
Früher war die parteipolitische Ansprache von migrantischen Communitys eine Frage der Benevolenz. Ihr Anteil unter den Wahlberechtigten war gering. Dass dieser Anteil mit der Staatsbürgerschaftsreform 2001 und weiterer Einwanderung steigen würde, war jedoch offenkundig. Erschreckend ist, dass sich die demokratischen Parteien auf diese zunehmende Migrantisierung der Wählerschaft nicht vorbereitet haben. Nun suchen sich AfD und BSW thematische Nischen und vernachlässigte Wähler:innen im parteipolitischen Wettbewerb. Dabei haben sie auch migrantische Deutsche als Zielgruppe entdeckt und eine professionelle Ansprache entwickelt.
Sie selbst bezeichnen sich als politisch heimatlost. Was meinen Sie damit?
Die politische Mitte eifert dem von Rechtsextremen gezielt gestreuten Mythos von »transformationsbesorgten Bürgern« nach. Im Schatten der rechtsautoritären Verschiebung – nicht nur in Deutschland, sondern auch weltweit – wird die Nachfrage migrantischer und nicht-migrantischer Wähler:innen nach einer progressiven politischen Agenda massiv vernachlässigt. Ich beobachte eine zunehmend von Fakten befreite, von Lernblockaden und von einem Abbau wichtiger humanitärer Errungenschaften geprägte Politik in der demokratischen Mitte. Deshalb fällt es mir immer schwerer Überlappungen mit Parteien herzustellen. In dem Sinne bin ich politisch heimatlost geworden.

2029 scheint weit weg, und doch werden die nächsten Jahre den Kurs Deutschlands entscheidend bestimmen. Was ist Ihre Prognose für die nächste Bundestagswahl?
Nach meinen Berechnungen werden wir gut 30 Prozent migrantische Wahlberechtigte zur Bundestagswahl 2029 haben. Das ist eine kritische Masse, die über den Ausgang von Wahlen entscheiden kann. Auch der symbolpolitische Vorstoß einer Regierung unter Friedrich Merz gemeinsam mit der SPD gegen Doppelstaatler:innen wird die massive Migrantisierung der Wählerschaft nicht aufhalten können. Wenn demokratische Parteien endlich eine professionelle Ansprache für migrantische Communitys entwickeln, kann sich ein großes Potenzial entfalten. Wenn aber rechtsoffene Teile der Merz-CDU die Partei in eine Koalition mit der AfD treiben, wird die massenhafte Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft bei migrantischen und rassifizierten Deutschen ein realpolitisches Thema werden. Solch eine Entwicklung würde die Abwanderungsdynamiken von migrantischen Deutschen radikal intensivieren. Bei solch einem Szenario bewegen wir uns im »schon wieder« statt »nie wieder« – 2033 würde dann stark an 1933 erinnern.