Wie Thüringen die Demokratie herausfordert – Martin Debes im Interview
Sie sind Thüringer, schreiben Sie im Vorwort zu »Deutschland der Extreme«, und auch Ihre Vorfahren haben schon dort gelebt, als Bauern, Pfarrer und Ärzte. Haben Sie während des Schreibens manchmal an »Ihre« Leute gedacht und wie sie das Buch wohl aufnehmen werden?
Ich denke, jede oder jeder, der/die an einem längeren Text arbeitet, denkt daran, wie Familie, Freunde und jene Menschen, mit denen sie oder er verbunden ist, das Ergebnis lesen werden. In diesem Fall ist es ja ein ausdrückliches Anliegen des Buches, zu erklären, warum Thüringen nicht irgendeine Ecke des östlichen Beitrittsgebiets ist, in dem komische Dinge geschehen, sondern dass es ein altes, deutsches Land ist, mit einer interessanten, eigenständigen und, ja, teils auch problematischen Geschichte – und dass die aktuellen politischen Entwicklungen mit dieser Geschichte etwas zu tun haben. Gerade weil ich selbst ein Produkt dieses Landes bin, versuche ich, mich den Ereignissen und den beteiligten Personen möglichst sachlich und fair zu nähern. Ob mir das gelungen ist, sollen die Leserinnen und Leser beurteilen.
Sie zeigen in Ihrem Buch eindrücklich, wie wichtig es ist, in die Geschichte Thüringens zu schauen, wenn man die gegenwärtige Situation dort verstehen möchte. Erst dann fällt nämlich beispielsweise auf, dass sich Konstellationen wie das Regieren gemeinsam mit Extremisten wiederholen könnten. Haben die Thüringer:innen nichts gelernt?
Die drängende Frage, ob Menschen aus der Geschichte lernen, beschränkt sich nun wirklich nicht auf Thüringen. Der Eroberungskrieg Russlands gegen die Ukraine, die Eskalation der Gewalt in Israel und Gaza, die mögliche Wiederwahl von Donald Trump in den USA: Überall werden die Lehren der Weltkriege, des Holocaust, des Nahost-Konfliktes oder, wie im Fall von Trump, nur wenige Jahre zurückliegender Ereignisse – wie der Sturm auf den US-Kongress – wissentlich ignoriert. Die Besonderheit von Thüringen liegt darin, dass hier bestimmte, auch extreme Entwicklungen besonders früh zu beobachten waren, vor 100 Jahren, und eben auch jetzt. Die möglichen Gründe dafür versuche ich in dem Buch zu diskutieren, wobei ich mir nicht anmaßen möchte, allgemeingültige Antworten geben zu können.
Fast alle wichtigen Konfliktlinien der Bundesrepublik lassen sich anhand von Thüringen nachvollziehen, schreiben Sie in Ihrem Buch. Welche sind das konkret?
Konfliktlinie meint hier nicht nur Auseinandersetzung, sondern auch Reibung, die durchaus produktiv sein kann. Die ländliche Struktur Thüringens mit seinen eher kleinen Städten, die aber als frühere Fürstenhöfe kulturelle und universitäre Zentren blieben, lässt den Stadt-Land-Konflikt deutlicher als anderswo hervortreten. Weimar verkörpert diese Ambivalenz am stärksten – wobei die Stadt auch für das prekäre Selbstverständnis des deutschen Volkes steht: für die kulturell fruchtbare, aber auch teils absurd wirkende Kleinstaaterei, für das Nationalgewühl mit Urburschenschaft und Wartburgfest, für die Gründung der ersten parlamentarischen Republik, für die besonders frühe Machtergreifung Hitlers und natürlich für die deutsche Teilung und ihre im Westdeutschland notorisch unterschätzten Nachwirkungen. Thüringen, erst von den Amerikanern, dann 40 Jahre von der Roten Armee besetzt, besaß in der DDR den größten Anteil an der Staatsgrenze zur BRD und wurde nach 1989 besonders stark von der Transformation betroffen. Bis auf Jena blieb kein echtes Industriezentrum übrig. Wer jetzt die politischen Zustände im Land betrachtet, sollte all dies zumindest mit bedenken. Das ist das Anliegen meines Buches.
Die Demokratie in Deutschland steht gegenwärtig extrem unter Druck. In Thüringen tut sie das bereits seit dem 5. Februar 2020, als ein Ministerpräsident mit den Stimmen der AfD – kurzzeitig – ins Amt kam. Was kann man auf Bundesebene besser machen als (damals) in Thüringen?
Die Konstellation im Thüringer Parlament – AfD und Linke besetzen die Mehrheit der Sitze, Rot-Rot-Grün hat keine Mehrheit, CDU schließt Koalition mit Linke aus – ist bislang einmalig und wird sich so auch nicht in anderen Ländern oder gar im Bund wiederholen. Die Lehren aus Thüringen sind dennoch vielfältig. Erstens: Die destruktive Kraft der AfD darf nicht unterschätzt werden. Gleichzeitig muss ein Zwischenweg zwischen panischem Ausgrenzen, das nur den Opfermythos der Partei stärkt, und taktischem Vereinnahmen, das ihre Wirkungsmacht erhöht, gefunden werden. Eine überzeugende Strategie gibt es da bisher noch nicht. Die CDU hat sich jetzt die inhaltliche Auseinandersetzung vorgenommen, ich bleibe da vorsichtig, zumal sie dank Stimmen der AfD immer wieder zu Mehrheiten im Landtag gelangt. Und zweitens: Die anderen Parteien sollten bei allem politischen Wettbewerb untereinander kooperationsfähig bleiben. Die Ursache der Regierungskrise im Februar 2020 war die Absage der CDU, überhaupt ernsthaft mit der Linken über eine Zusammenarbeit zu reden. Erst der Schock der Thomas-Kemmerich-Wahl macht sie zwischenzeitlich möglich, bevor die CDU in das alte Abgrenzungsmuster zurückfiel.