Die Pionierinnen des Deutschen Bundestages

Als am 7. September 1949 die 410 frisch gewählten Abgeordneten des ersten Deutschen Bundestages zusammenkamen, waren darunter 28 Frauen. Während der Legislaturperiode wuchs deren Zahl auf 38, doch hatten sie es schwer, politisch in Erscheinung zu treten. Dennoch behaupteten sie sich in ihren Fraktionen und in den Ausschüssen. Die Zentrumsabgeordnete Helene Wessel wurde zur ersten weiblichen Partei- und Fraktionsvorsitzenden gewählt, die SPD-Abgeordnete Jeanette Wolff stieß als bekennende Jüdin und Holocaust-Überlebende mit ihren Forderungen nach Entschädigung der jüdischen Opfer im Parlament auf viel Unverständnis. Und die Theologin und CDU-Abgeordnete Anne Marie Heiler war eine typische Hinterbänklerin und hielt am 12. Mai 1950 ihre erste Rede. »Der nächste Redner ist eine Dame«, kündigte Bundestagspräsident Erich Köhler sie an.
Ein literarisches Denkmal den Frauen, die die parlamentarische Demokratie in unserem Land mit aufbauten
Heute weiß kaum jemand mehr, wer die Frauen im ersten Deutschen Bundestag waren. Dem will dieses Lesebuch begegnen, mit einem biografischen Teil – und mit einem Experiment. Fünf Schriftstellerinnen nähern sich fünf Parlamentarierinnen auf sehr persönliche Weise: Helene Bukowski, Julia Franck, Shelly Kupferberg, Terézia Mora und Juli Zeh eröffnen mit ihren Texten einen je eigenen literarisch-essayistischen Zugang zum Leben der Politikerinnen. Mehrere Generationen liegen zwischen Autorinnen und Politikerinnen. Sprache, Habitus und Hintergrund könnten unterschiedlicher nicht sein. Und doch schaffen die Texte es, neue sprachliche Pfade zu ebnen, um sich dieser bisher weithin vergessenen politischen Gründerinnengeneration der Bundesrepublik zu nähern. Jedes der fünf Porträts zeichnet die Konturen einer Frau, die als politische Pionierin neue und nicht selten ungewöhnliche Wege ging. Gemeinsam setzen die Texte den Frauen, die die parlamentarische Demokratie in unserem Land mit aufbauten, ein literarisches Denkmal.
Mit einem Vorwort von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas und 38 Kurzporträts.
Essays
- »Da fehlt noch Salz«: Helene Bukowski über die FDP-Abgeordnete Dr. Friederike Mulert
- »Wenn man Demokrat ist, dann muss man misstrauisch sein«: Julia Franck über die SPD-Abgeordnete Jeanette Wolff
- »Die erste Europäerin«: Shelly Kupferberg über die CDU-Abgeordnete Dr. Luise Rehling
- »Die höchste Frau: ein ganzer Kerl«: Terézia Mora über die CSU-Abgeordnete Dr. Maria Probst
- »Straße frei, es wird geschossen!«: Juli Zeh über die KPD-Abgeordnete Grete Thiele










Vorwort von Bärbel Bas, Präsidentin des Deutschen Bundestages
Von den meisten weiblichen Abgeordneten im ersten Deutschen Bundestag ist nicht einmal der Name einem größeren Publikum bekannt. Das allein macht deutlich, wie nötig und wichtig dieses Buch über wegweisende Pionierinnen unserer parlamentarischen Demokratie ist.
Die Autorinnen und Autoren haben häufig neue Quellen erschlossen und manchmal erst durch langwierige Umwege Informationen gefunden. Das Ergebnis ist eine Grundlagenarbeit zu den Biografien, den Motivationen und dem politischen Engagement der ersten weiblichen Bundestagsabgeordneten. Vielen Dank an die Schriftstellerinnen Helene Bukowski, Julia Franck, Shelly Kupferberg, Terézia Mora und Juli Zeh sowie an die Autorinnen und Autoren der Wissenschaftlichen Dienste in der Bundestagsverwaltung.

Das jetzt vorliegende Bild ist vielfältig: Da sind erfahrene Parlamentarierinnen wie Helene Weber, die schon in der Weimarer Republik ihre Stimme erhoben hatten und es im fortgeschrittenen Alter noch taten. Da sind junge Frauen wie Aenne Brauksiepe, die aus den Trümmern der Nachkriegszeit die neue Republik mitgestalten wollten. Und da sind auch jene Frauen wie Jeanette Wolff oder Grete Thiele, die mit ihren Familien im Nationalsozialismus Verfolgung, Folter und Lagerhaft ausgesetzt waren. Durch ihr Überleben fühlten sie sich verpflichtet, dafür zu sorgen, dass sich solch ein Terror nicht wiederholt. Was sie alle eint: Sie kämpften leidenschaftlich, um im männerdominierten Plenum gehört, ernst genommen und überhaupt zu allen Veranstaltungen eingeladen zu werden.
Im ersten Deutschen Bundestag kamen die Parlamentarierinnen auf einen Anteil von 6,8 Prozent, der am Ende der Legislatur durch Nachrückerinnen auf neun Prozent stieg. Anfang des Jahres 2024 liegt der Frauenanteil bei 36,3 Prozent. Das reicht aber nicht.
Es ist heute besonders spannend zu lesen, wofür sich die Frauen damals eingesetzt haben. Natürlich ging es in den Nachkriegsjahren erst einmal darum, Gefangene zurückzuholen, Opfer zu entschädigen, das Land und die Demokratie wieder aufzubauen. Manches Anliegen der Gleichstellungspolitik kommt uns aber heute wundersam vertraut vor – wie etwa die Forderung nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit. Den ersten Frauen im Deutschen Bundestag setzt dieses Buch ein literarisches Denkmal, das an ihre persönlichen Geschichten und ihre Verdienste erinnert. Viel zu lange war beides in Vergessenheit geraten. Diese Frauen haben es verdient, dass wir an sie erinnern. Deshalb würde ich mich freuen, wenn zum Beispiel die Namen dieser Frauen noch stärker als Inspiration bei der Benennung von Straßen oder Plätzen gesehen werden.
»Doch Politikerinnen in den 1950er Jahren können sich nur selten auf weibliche Vorbilder berufen, sie sind überall die ersten und oft die einzigen«, schreibt Natalie Weis in ihrer Einleitung. Die ersten 38 Bundestagsabgeordneten sind genau das für die nachfolgenden Generationen von Parlamentarierinnen geworden: weibliche Vorbilder. Und das ist auch ein Auftrag an uns aktuelle Parlamentarierinnen.

Auf dem Weg zu echter Gleichstellung ist schon vieles gewonnen, aber längst nicht alles erreicht. Wir werden nur vorankommen auf dem Weg zur Parität, wenn wir unsere Erfahrungen weitergeben und uns generationsübergreifend unterstützen.
Die Arbeitsbedingungen für Parlamentarierinnen müssen sich verbessern, damit wir die Parität endlich möglich machen. Parteien und Parlamente müssen dafür sorgen, dass mehr Frauen Zugang in die Politik finden. Es muss möglich sein, Familie und Amt noch besser zu vereinbaren. Und es muss einen Schutz geben vor frauenfeindlichen Beschimpfungen und Drohungen, die männliche Kollegen meist so nicht erleben müssen. Gerade in der ehrenamtlichen Kommunalpolitik.
Viele der weiblichen Abgeordneten des ersten Deutschen Bundestages haben neue Pfade geebnet. So finden wir unter ihnen die erste Oberbürgermeisterin von Berlin, die erste Frau im Parteipräsidium der CDU, die erste Konsulin und die erste Botschafterin der Bundesrepublik Deutschland, die erste Bundesfamilienministerin sowie die erste Bundestagsvizepräsidentin. Ihre Karrieren waren bahnbrechend für die folgenden Generationen von Frauen. Auch für mich persönlich gilt: Diese Frauen waren im wahrsten Sinne des Wortes Wegbereiterinnen. Dafür gebührt ihnen Dank und Respekt.