»Freipass«: Wie eine wunderbare Buchreihe entstand – und nun endet.
An einem kalten Januartag 2014 saßen wir im Wohnhaus von Günter und Ute Grass in Behlendorf zusammen und schmiedeten Pläne für eine neue Buchreihe. Gastgeber (86) und Gastgeberin (77) hatten drei Jahre zuvor eine Stiftung gegründet, die nicht nur das Werk des Literaturnobelpreisträgers über seinen Tod hinaus weiter pflegen sollte, sondern auch das Ziel hat, Kunst, Kultur und Bildung sowie Wissenschaft und Forschung finanziell zu fördern.
In diesem Sinne überlegten wir nun gemeinsam mit dem langjährigen Lektor, Berater und Freund Dieter Stolz, ob es im Rahmen dieses Stiftungsauftrags nicht auch eine geeignete Publikation geben sollte, ähnlich einem Jahrbuch. Die Vorstellungen waren vielfältig. Günter Grass bestand vehement darauf, dass es neben Beiträgen der literaturwissenschaftlichen Forschung zu seinem Werk stets auch ein essayistisches Schwerpunktthema geben sollte, um wichtigen, aber nur noch wenig beachteten Autorinnen und Autoren ein Podium zu bieten. Außerdem sollten unter der Rubrik »Zunge zeigen« aktuelle politische Themen kontrovers behandelt werden, frei nach dem Motto »Der Sprache den Freipaß geben, damit sie laufe …«, wie es in seiner Erzählung »Das Treffen in Telgte« heißt.
Ein Jahr später lag zur Leipziger Buchmesse 2015 der erste, von Volker Neuhaus, Per Øhrgaard und Jörg-Philipp Thomsa herausgegebene Band vor. Er würdigte u.a. Irmtraud Morgner (1933–1990) und thematisierte den Abhörskandal der NSA. Zudem gab es dort den Erstdruck eines 12-seitigen Langgedichts von Grass über den indischen Unabhängigkeitskämpfer Netaji, der sich in seinem militärischen Welterlösungseifer mit den Nazis verbündet hatte. Grass trug es mit Verve im großen Saal der überfüllten Universitätsbibliothek vor und stellte sich im Messetrubel auf dem Blauen Sofa kritischen Journalistenfragen zum damals wie heute nicht klar geregelten Umgang mit politischen Flüchtlingen. Als Ehrenpräsident des PEN-Zentrums Deutschland hatte er kurz zuvor für alle EU-Staaten ein gemeinsames menschenwürdiges Asylrecht gefordert.
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Vier Wochen nach diesem denkwürdigen Auftritt ist Günter Grass am 14. April 2015 gestorben. Die weiteren Bände der von ihm mitkonzipierten Reihe hat dann Ute Grass inhaltlich begleitet. Sie waren Heinrich Böll, der Revolte von 1968, dem Zeichner Horst Janssen und dem Dichter Paul Celan gewidmet. Der jetzt erschienene sechste Band hat den Stifter selbst anlässlich seines bevorstehenden 95. Geburtstages zum Thema, wobei die verschiedenen Facetten des Schriftstellers, Künstlers und engagierten Zeitgenossen Günter Grass beleuchtet werden.
Nach dem Tod von Ute Grass im April vergangenen Jahres hat der Vorstand der Günter und Ute Grass Stiftung beschlossen, die Publikationsreihe nicht weiter fortzuführen. Sie war in der Tat kein Verkaufsschlager, aber ein von Dieter Stolz als Redakteur mit großem Engagement betreutes und von Nadja Caspar hervorragend gestaltetes »Forum für Literatur, Bildende Kunst und Politik«, wie es im Untertitel heißt, das auch international große Anerkennung fand. Nicht nur uns im Verlag wird künftig etwas Wichtiges fehlen.