10. Sep 2024

»Was macht eine Geschichte queer?«: Hengameh Yaghoobifarah über den neuen Roman »Schwindel«

Im Interview spricht Autor:in Hengameh Yaghoobifarah über den neuen Roman »Schwindel«, das Dach der Großeltern in Teheran, das Begehren der Figuren im Roman und die Suche nach Erzählstil und Form.

Mit Playlist zum Buch!

»Man inhaliert diesen Roman förmlich, lernt dabei so etwas wie eine neue Sprache und lacht sich halb tot. Jede seiner Seiten ist so deliciously prall mit Leben.« DANIEL SCHREIBER

Schwindel
Empfehlung
Hardcover
23,00 €

Dear Hengameh, in wenigen Tagen erscheint Dein zweiter Roman »Schwindel«. Wie geht es Dir?

Ich bin aufgeregt und gespannt, wie meine Freund:innen das Buch finden werden. »Schwindel« ist in vieler Hinsicht anders als »Ministerium der Träume«, deshalb bin ich natürlich auch sehr gespannt darauf, wie der Text im Allgemeinen angenommen wird. Ich hoffe natürlich, dass er meinen Leser:innen Vergnügen bereitet. Ich freu ich jedenfalls sehr darauf, mit dem Buch auf Lesereise zu gehen.

Fühlte sich das Schreiben von »Schwindel« anders an als das Schreiben von »Ministerium der Träume«?

Auf jeden Fall. Bei »Schwindel« fühlte es sich mehr danach an, einen Plan zu haben, eine Ahnung davon, wie der Rhythmus, die Form und die Spielregeln der Geschichte sein sollen. Wahrscheinlich geht es vielen so, dass das Romandebüt sich noch nach einer Achterbahnfahrt mit zugebundenen Augen anfühlt. Das soll nicht heißen, dass mir »Schwindel« easy-peasy aus dem Ärmel gefallen ist, ganz im Gegenteil, aber ich hatte mehr Orientierung als bei »Ministerium der Träume«.

Porträtfoto Hengameh Yaghoobifarah
Autor:in

Hengameh Yaghoobifarah lebt und arbeitet in Berlin. Gemeinsam mit Fatma Aydemir hat Hengameh Yaghoobifarah 2019 den viel beachteten Essayband »Eure Heimat ist unser Albtraum« herausgegeben.

Im Mittelpunkt der Story steht Ava und ihre drei Lover:innen, die durch einen Zufall zeitgleich bei Ava zu Hause zusammenkommen. Wie kamen die Figuren aus dem Roman zu Dir?

Ich habe mir Gedanken über die Gesamtdynamik dieses Polyküls, also dieses Geflechts an Beziehungen, gemacht und mich gefragt, wer an welchem Strang zieht und wie diese Person dafür drauf sein muss, um ein chaotisches Lesbendrama zu verursachen. Lesbische, queere und feministische Kultur und Geschichte interessieren mich sehr, ich habe viel darüber nachgedacht, was es eigentlich bedeutet, eine Lesbe zu sein. Welche ästhetischen, politischen und persönlichen Motive eine Rolle innerhalb dieser Identität spielen können. Deswegen war es mir wichtig, vier Figuren zu schreiben, die in ihrem lesbischen Selbstverständnis – und ihrer Praxis – sehr unterschiedlich sind.

Was verbindet sie?

Das Offensichtlichste ist natürlich, dass Silvia, Robin und Delia alle miteinander verbunden sind, weil Ava ihre Liebhaberin ist. Viel wichtiger ist aber, dass die Themen Gefangenschaft und Freiheit für alle vier eine wichtige Rolle spielen. Alle vier sehnen sich auf ihre Art nach einem Leben, in dem sie ihrem Begehren – in allen möglichen Bereichen – folgen können, ohne gesellschaftlich oder durch ihr Umfeld dafür bestraft zu werden.

Die vier finden in einem Nick Hornby-Setting auf dem Dach zusammen. Welche Rolle spielt das Auf-engstem-Raum-einander-ausgeliefert-Sein, fast Kammerspielartige, für die Geschichte?

Jede der Figuren ist auf ihre eigene Art vermeidend. Ohne eine räumliche Gefangenschaft – oder auf engstem Raum entstandene Zwangsgemeinschaft – könnten sie ihr Muster fortsetzen, ihren Problemen, sowohl miteinander, als auch mit sich selbst, aus dem Weg zu gehen und sich von ihnen abzulenken. Mir gefällt es, die Figuren in eine Ausnahmesituation zu bringen und sie aus ihren Komfortzonen rauszuholen, wo sie mit ihren Dämonen konfrontiert sind.

Hast Du ein Lieblingsdach in Berlin oder einer anderen Stadt?

Ich liebe das Dach des Flutgrabens. Dort war ich nicht nur mal auf einer Feier eingeladen, sondern habe auch einige der Pressebilder für »Schwindel« gemacht. Mit Blick auf das Wasser, aber auch auf die Stadt und der Tatsache, dass es kein angsteinflößend schräges Dach ist, lässt es sich dort gut verweilen. Ein anderes Dach, das aber leider nicht mehr existiert, ist das der ehemaligen Wohnung meiner Großeltern mütterlicherseits in Teheran. Wenn es nicht mehr so heiß war, haben wir früher, wenn ich in den Sommerferien zu Besuch war, abends darauf gepicknickt, und manchmal konnte ich meinen Cousin sogar dazu überreden, trotz der Mücken ein Matratzenlager aufzubauen und dort zu übernachten. Durch die gerade Architektur sind die meisten Dächer dort begehbar, ich fand das immer richtig cool.

Worauf spielt der Romantitel »Schwindel« an?

Meine allererste Idee war der Titel »Vertigo«, wegen des schwindelerregenden Gefühls, das eine Höhenangst auslösen kann – weil die Geschichte ja auf einem Dach spielt. Dann dachte ich aber, dass das Synonym »Schwindel« viele andere Dimensionen birgt, mit denen ich innerhalb des Romans spielen kann: Schwindel kann auch positiv konnotiert sein, es kann aber auch Lügen oder Hochstapelei bedeuten.

Eine der Figuren, Delia, identifiziert sich als nicht-binär und wird im Roman mit Pronomen dey/demm beschrieben. Ging es Dir im Roman darum, eine gendersensible Sprache für Delias Identität zu finden?

Eine passende Sprache für nicht-binäre Personen gehörte zum Prozess, aber viel interessanter als Sprache fand ich die Frage nach Erzählstil und Form – und zwar für alle Figuren. Ich mag es, wenn die unterschiedlichen Figuren im Text einverleibt sind, wenn nicht nur im Text über sie erzählt wird, sondern sie letztendlich der Text werden. Queere Literatur hat in den letzten paar Jahren noch mal eine Konjunktion erfahren, was einerseits toll ist, andererseits aber auch schnell zu einer ästhetischen Formel werden kann, die man unüberlegt reproduzieren kann, ohne sich viele Gedanken darüber zu machen. Schlimmstenfalls ist das dann langweilig oder unstimmig. Mir war es wichtig, mir zu überlegen, was queeres Erzählen für mich bedeutet, und zwar nicht nur allgemein, sondern für diesen spezifischen Text. Was macht eine Geschichte überhaupt queer? Für mich ist das etwas viel Grundsätzlicheres als lediglich das Auftauchen von LGBTIQ-Personen. 

Wo und wann sollte man »Schwindel« idealerweise lesen, auf einem Dach, im kühlen Bett, am Badesee, mit Limo und Pommes Schranke in der Hand?

Ich glaube nicht, dass es ein falsches Setting dafür gibt, alle diese Vorschläge klingen gut, und wenn man mit einer schwindelerregenden Zutat wie einem Joint, einem Sekt auf Eis oder einem frischen Crush nachhelfen will, passt das auch hervorragend dazu.

Vielen Dank!

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