07. März 2022

»Wir stehen an einem Wendepunkt der Menschheitsgeschichte«

Lektorin Friederike Schilbach spricht mit Georgi Gospodinov über den Krieg in der Ukraine und das prophetische Moment seines neuen Romans »Zeitzuflucht«.

In Ihrem neuen Roman setzen Sie sich mit den Gespenstern der europäischen Vergangenheit auseinander. Die Hauptfigur Gaustin eröffnet eine Klinik für die Vergangenheit. Was ist das für eine Klinik?

Am Anfang ist diese Klinik nur für Menschen gedacht, die ihr Gedächtnis verlieren. Menschen mit Gedächtnisverlust leben bekanntlich in einer anderen Zeit, sie verlieren ihr Kurzzeitgedächtnis, sie leben in einem vergangenen Jahrzehnt ihrer Jugend. Die Gegenwart ist ihnen ein fremdes Land. Gaustins Idee ist es, ihre innere Zeit mit dem Ort zu synchronisieren, an dem sie leben. Also bietet er ihnen die Räume ihrer Vergangenheit an. Zeiträume ihres jeweiligen Jahrzehnts. Aber allmählich fliehen auch immer mehr gesunde Menschen aus der Gegenwart und suchen Zuflucht in dieser Klinik der Vergangenheit.

Der eigentliche Protagonist des Romans scheint die Zeit zu sein?

Ja, Zeit, Vergangenheit und Erinnerung sind die drei Axen, auf denen der Roman aufbaut. Zeit hat verschiedene Dimensionen – es gibt physische Zeit, historische Zeit, politische Zeit und persönliche Zeit. Und wir leben tatsächlich in allen gleichzeitig. Aber „Zeitzuflucht“ ist auch ein Roman über den politischen Gebrauch von Erinnerung und über den subtilen Moment, in dem Vergangenheit zur Ideologie wird.

In Ihrem Roman entscheiden die europäischen Länder in einem Referendum, in welches Jahr des 20. Jahrhunderts sie zurückkehren wollen.

Ja, das ist der Schlüsselmoment des Romans. Der Moment, in dem man anfängt, ganze Länder in ihre Vergangenheit zurückzuversetzen, selbst wenn es das glücklichste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts gewesen sein mag. Während ich den Roman schrieb, wollte ich eigentlich nur warnen, als ich sah, wie sich die ersten Anzeichen der Vergangenheit in gefährliche Propaganda verwandelten und alte Nationalismen und Torheiten wiederbelebten. Der Roman endet mit dem Kapitel „1939/2029“, in dem die Armeen entlang der polnischen Grenze aufgereiht sind und minutiös den Beginn des Zweiten Weltkriegs nachstellen. Mit einem zufälligen Schuss fängt alles wieder von vorne an, und die Panzer rollen.

Unter dem Eindruck, was gerade in der Ukraine passiert und Wladimir Putins Krieg, mit dem er offensichtlich das Rad der Geschichte zurückdrehen will, liest sich Ihr Roman geradezu prophetisch.

Ich habe nur nicht damit gerechnet, dass das alles so schnell passiert. In unserer gegenwärtigen Situation will ein Diktator das Rad der Geschichte in eine Zeit zurückdrehen, in der das Imperium noch ganz war. Er will das 21. Jahrhundert zurück ins 20. Jahrhundert bringen. Geht man in der Geschichte zurück, landet man allerdings immer am Vorabend des 1. September 1939.

 

Der Roman spielt im Jahr 2029. Es sieht so aus, als würde der dystopische Charakter Ihres Romans von der Realität kassiert.

Das ist eines der Zeichen der Zeit, in der wir leben. Es verwandelt unsere Dystopien in realistische Romane. Oder wir leben bereits in dieser Dystopie. Ich versuche im Roman auch darüber nachzudenken, ob wir an dem Punkt sind, an dem plötzlich etwas in der Maschinerie der Zeit zusammengebrochen ist und alle Zeiten durcheinander geraten sind, weshalb wir uns also in diesem ständigen Umherirren zwischen Vergangenheit und Gegenwart befinden.

 

Welchen Einschnitt markiert der 24. Februar 2022?

Ich befürchte, dass dies der Wendepunkt ist, an dem die Welt nur noch zwei Möglichkeiten hat: Entweder zusammenzubrechen und sich selbst zu zerstören (nuklear oder konventionell mit einem unzähmbaren Krieg) oder sich abrupt zu besinnen. Es gibt solche Momente in der Menschheitsgeschichte, und an diesem Punkt sind wir jetzt. An diesem Punkt sind wir sowohl unseren Vorfahren, die diese Zivilisation geschaffen haben, als auch unseren Kindern gegenüber verantwortlich. Sogar gegenüber denjenigen, die erst noch geboren werden. Denjenigen, die uns ungeboren durch den Zaun der Zukunft beobachten. Der Schlüssel ist, sich dieses Moments und der Entscheidungen, vor denen wir stehen, bewusst zu sein. Für solche Momente schreiben wir Bücher.

 

Gibt es etwas, das Ihnen Hoffnung macht?

Die Hoffnung ist, dass, wenn die Welt diesen Krieg überlebt oder wenn es ihr gelingen sollte, ihn schnell zu beenden, für mindestens ein paar Jahrzehnte niemand mehr auf die Idee kommt, einen solchen Krieg zu führen. Und es wird auch unsere Sensibilität schärfen und uns hoffentlich die Augen öffnen für all die Probleme, die sich für unseren Planeten abzeichnen. Und nicht länger zuzulassen, dass Ein-Mann-Diktaturen eigenmächtig handeln und menschliche Schicksale brechen.

 

Ist Literatur ein Zufluchtsort?

Literatur ist viel mehr als das. Sie kann einfache, aber wichtige Dinge leisten. Zunächst einmal schafft sie Erinnerungen an das, was war. Und wie Gaustin im Roman sagt: Ohne Gedächtnis könnte alles erlaubt sein. Literatur gibt uns auch ein Werkzeug an die Hand, um uns selbst und diese verwirrte Welt, in der wir leben sind, zu verstehen. Aber die beiden wichtigsten Dinge, die Literatur speziell heute leisten kann, sind folgende: Zum einen ist eine lesende Person weniger anfällig für Propaganda als eine, die nicht liest. Denn Propaganda und Verschwörungstheorien arbeiten mit schnellen und flachen Erklärungen, während Bücher uns ein langsames und tiefes Verständnis geben. Es gibt also auch diesen unsichtbaren Krieg, der gerade im Gange ist – Kultur gegen Propaganda. Und zum anderen ermöglichen Literatur und Geschichtenerzählen Mitgefühl und Empathie für andere. In einer Welt wie heute ist das von zentraler Bedeutung. Und was wir heute als Reaktion der Menschen in Europa und auf der ganzen Welt sehen, ist ein Erwachen des Mitgefühls, eine neue Sensibilität, die wir ein wenig vergessen hatten.

»Zeitzuflucht«: Lesung aus dem neuen Roman von Georgi Gospodinov

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