»Ich wollte wissen, wie es den Menschen in Afghanistan jetzt geht«
Liebe Natalie Amiri, Sie sind als ARD-Korrespondentin lange in Teheran gewesen, aber auch immer wieder nach Afghanistan gereist. Wie ist ihr persönliches Verhältnis zu dem Land am Hindukusch, das der Westen im Spätsommer 2021 endgültig im Stich ließ?
Das Schicksal der Menschen in Afghanistan geht mir nahe. Ich spreche Dari, eine der beiden Amtssprachen in Afghanistan. Ich verfolge das Schicksal des Landes schon lange. Seit Jahrzehnten leiden sie unter Krieg, Unterdrückung, Fremdbestimmung, leben zwischen Hoffnung und Hoffnungslosigkeit. Ich war mehrmals in Afghanistan. In den ersten Jahren herrschte große Hoffnung, dass es für das Land die Chance gibt, Frieden zu erleben. Doch das war ein kurzer Moment. Als ich 2012 und 2013 nach Afghanistan kam, war es kaum möglich, sich alleine auf der Straße fortzubewegen, geschweige denn mit dem Auto durchs Land zu fahren. Zu unsicher, überall lauerten Taliban-Kämpfer, die mit Sprengsätzen viele Straßen im Land unbefahrbar machten.
Der Titel Ihres Buchs spricht von Afghanistan und seiner Bevölkerung als unbesiegten Verlierern. Was genau meinen Sie damit?
Fast jede Großmacht ist in Afghanistan gescheitert. Alexander der Große meinte schon: Es ist leicht nach Afghanistan rein-, aber unmöglich heil wieder rauszukommen. Die Briten erlitten ihre erste große Niederlage in Afghanistan, ihr gesamtes Heer wurde vernichtet. Auch die Russen mussten nach zehn Jahren 1989 erfolglos das Land verlassen. Man könnte meinen, wenn es auf der einen Seite Verlierer gibt, stünden auf der anderen Seite die Gewinner. Doch Afghanistan ist der größte Verlierer, zwar unbesiegt, doch zerrüttet, kurz vor dem totalen wirtschaftlichen Kollaps; eine humanitäre Katastrophe sorgt dafür, dass 11 Millionen Kinder von Hungertod bedroht sind, die Bevölkerung zu 98 Prozent verarmt und geschunden in ihrer Seele.
Fast könnte man meinen die Stimmung ist fröhlich
In der Islamischen Republik Afghanistan werden momentan die Uhren von den Taliban zurückgedreht. Was konnten Sie in Kabul und Kandahar im November 2021 beobachten? Unter welchen Maßnahmen leiden Afghaninnen und Afghanen am meisten?
Vermutlich leidet gerade der Teil der Bevölkerung am meisten, der durch die westliche Besatzung Vorteile hatte. Aus verschiedenen Gründen. Doch es weint bei weitem nicht jeder der alten Regierung in Afghanistan hinterher. Im Gegenteil, die Regierung war sehr verhasst, das Vertrauen in den Staat verloren, auch in den Westen, denn die Demokratie und die westlichen Werte, die man der Bevölkerung versprach, wurden zum großen Teil nicht vorgelebt. Korruption und fingierte Wahlergebnisse erschütterten das Vertrauen in vom Westen gepriesene demokratische Ziele. Die Regierung war machthungrig und korrupt. Und bei weitem kein gutes Vorbild für die Menschen.
Am schlimmsten getroffen hat es die Frauen in Afghanistan. Ihnen droht nicht nur Armut und Hunger, wie dem Rest der Bevölkerung. Zusätzlich haben sie ihre Lebensinhalte verloren, für die sie gekämpft, die sie geliebt haben. Anwältinnen, Journalistinnen, Lehrerinnen, Parlamentarierinnen. Aber nicht nur sie, jedes junge Mädchen, das gerade auch auf dem Land die Möglichkeit hatte, in die Schule zu gehen, hat seinen Schutzraum, seine Hoffnung, sein Ziel verloren. Die Frauen in Afghanistan haben viel riskiert, um dort zu stehen, wo sie vor dem Sommer 2015 standen. Oft gegen den Willen ihrer streng konservativ islamischen Familie. Jetzt haben sie alles verloren und sind den Taliban und der patriarchalischen Familienstruktur ausgeliefert.
Im Buchkapitel »Der Abzug« sind eindrücklich Ihre Bemühungen dokumentiert, einer Reihe von Afghaninnen die Flucht aus Kabul zu ermöglichen. Was war Ihrer Meinung nach der Kardinalfehler beim desaströsen, überstürzten Abzug aus Afghanistan, vom dem die Männer in Erinnerung bleiben werden, die von den Fahrwerken in den Tod stürzten?
Es gab weder eine effektive Koordination, einen Plan für eine Evakuierung, noch den politischen Willen zu helfen. Wenn dieser existent gewesen wäre, dann hätte es die Möglichkeit gegeben, sich schon im Vorfeld zu überlegen, wie man aus dem Land geht, wie man denjenigen Schutz gewährt, denen man Schutz versprochen hat. In diplomatischen Kreisen sprach man oft darüber, WANN die Taliban zurückkommen an die Macht, nicht OB. Es war also kein Geheimnis, dass die Taliban die Macht übernehmen werden, sobald der Westen sich rauszieht.
Die deutsche Bundesregierung stand kurz vor der Bundestagswahl, es bestand weder Interesse, noch gab es Zeit, sich um Afghanistan zu kümmern. Und Flüchtlinge vor einer Wahl, damit gewinnt man keine Stimmen, zumindest glaubten das viele Politiker, die sich immer mehr von Angst vor Rechtspopulisten und negativen Beliebtheitsumfragen steuern lassen, als von einer wertebasierten Politik. Deutschland ist nicht gelungen, was den Franzosen, Spaniern, Polen und Italienern weit besser gelungen ist. Afghaninnen und Afghanen in Sicherheit zu bringen.
Im November 2021 sind Sie 100 Tage nach der Machtübernahme der Taliban allein nach Afghanistan gereist. Trotz unabwägbarer, großer Gefahren. Was trieb sie an, dieses Risiko einzugehen?
Weil niemand mehr hinsah. Während das Interesse im Sommer an Afghanistan riesig war – gefühlt verfolgte die ganze Welt die katastrophalen Tage der Evakuierung im Sommer 2021, war die Aufmerksamkeit rapide abgeflaut. Keiner sah mehr nach Afghanistan. Ich wollte wissen, wie es den Menschen jetzt geht. Was die Taliban politisch vorhaben. Denn sie sind jetzt an der Macht. Sie müssen die humanitäre Krise bewältigen. Doch wie? Zeigen sie sich nur moderater als vor 20 Jahren, oder sind sie es wirklich? Wie geht es der Anwältin, die sich jetzt im Keller versteckt. Wie der Moderatorin, die vor einem Millionenpublikum im afghanischen Fernsehen Musikgalas moderierte. Wer freut sich über die Machtübernahme der Taliban? Und wie finden es die Taliban-Kämpfer selbst, sich jetzt nicht mehr verstecken zu müssen, sondern für Recht und Ordnung sorgen zu müssen.
Interview mit einem Taliban-Kämpfer an einem Check-Point in Kandahar.
Auf Ihrer letzten Reise haben Sie mit Dutzenden Afghaninnen gesprochen, von ihren Hoffnungen und Plänen erfahren. Gibt es eine Geschichte, die Ihnen besonders nahegeht, die Sie einfach nicht verlässt?
Es kam nicht ein einziges Mal vor, dass die Frauen, mit denen ich sprach, nicht weinten. Sie sind am Boden zerstört. Wissen nicht, wie es weitergehen soll. Das Interesse an Afghanistan ist erloschen, die Listen für Schutzbedürftige sind geschlossen. Die wenigsten kommen noch raus. Doch am meisten ist mir ein Gespräch nahegegangen, das für mich auch eine Hoffnung symbolisiert. Fast eine halbe Stunde führte ich mit der Frauenrechtlerin Mahbouba Seraj ein Interview in ihrem Haus in Kabul. Kein Gespräch hat mich als Journalistin bisher so berührt wie das mit ihr. Sie sagt: "Wir Frauen dürfen uns nicht vertreiben lassen von den Taliban. Wir dürfen ihnen nicht die Bildfläche überlassen. Wir müssen mit den Taliban reden. Wir müssen kämpfen für ein Afghanistan, das uns allen gehört.“
Seraj hat den richtigen Ansatz, der Machtwechsel kann auch eine Chance sein, dass das Land von innen heraus gesundet. Ohne eine Besatzermacht. Zwar kamen die Amerikaner in ihrem Verständnis als Retter, doch sie benahmen sich im Land wie Besatzer. Die Taliban sind Teil der afghanischen Bevölkerung. Vielleicht einer, der unseren westlichen Werten sehr fern ist. Aber sie sind repräsentativer als eine Ghani-Regierung. Wenn sich mehr Frauen wie Seraj trauen, ihre Stimme in Zukunft zu erheben und für eine weibliche Partizipation an Politik und Gesellschaft kämpfen, vielleicht kann dann das Land das erste Mal von innen heraus wachsen, in seiner eigenen Geschwindigkeit. Wenn man es lässt. Denn es stehen schon die nächsten Staaten an der afghanischen Türschwelle, die die Lücken, die der Westen hinterlassen hat, füllen wollen: Pakistan, Iran, Russland und China.
Fast biblisch – Provinz Zabul, Afghanistan