»In einen Widerstand zur Realität gehen«: Die Theaterinszenierung von Tove Ditlevsens »Vilhelms Zimmer«

Warum die Inszenierung nicht den Romantitel trägt, welche künstlerische Herausforderung die Dramatisierung mit sich bringt und welche Bedeutung Tove Ditlevsens Werk heute hat, darüber spricht Sybille Meier, Leitende Dramaturgin am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, im Interview.
Die Inszenierung von Karin Henkel wird nicht den Romantitel »Vilhelms Zimmer« tragen, sondern heißt »Die Abweichlerin«. Warum habt ihr euch für diesen Titel entschieden?
Uns war es sehr wichtig, den Fokus auf die Autorin und ihr künstlerisches Schaffen zu richten und nicht so sehr auf eine männliche Figur des Romans, wie es der Titel »Vilhelms Zimmer« suggeriert. Tove Ditlevsen hat sich selbst einmal in einem Interview als »Abweichlerin« bezeichnet, und das fanden wir ziemlich treffend für ihre besondere Art des Schreibens. Die Schriftstellerin passt in keine Kategorie so richtig rein, und das zeigt sich vor allem in ihrem letzten Buch. Einerseits hatte sie immer eine unbändige Sehnsucht danach, »normal« zu sein, geliebt zu werden. Andererseits war gerade das Unnormale, das Extreme der Stoff, aus dem sie ihre ganze Kunst geschaffen hat. In diesem Widerspruch befand sie sich zeit ihres Lebens.

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Tove Ditlevsen kämpfte als Frau um Anerkennung in einer männerdominierten Welt. Welche Relevanz hat das heute für das Publikum?
Leider immer noch die gleiche! Wie ist es möglich, den Spagat zu schaffen zwischen Künstlerinnen-Dasein und Mutter-Rolle und »normalem« Familienleben? Die Antwort lautet: gar nicht. Das war damals so und ist heute nicht viel anders. Für Tove Ditlevsen, die zudem noch nicht einmal einen bürgerlichen Hintergrund hatte, sondern als Arbeiterkind aus dem Kopenhagener Stadtteil Vesterbro stammte, war es undenkbar, so etwas wie eine Schriftstellerinnenkarriere anzustreben. Und dennoch ist ihr das gelungen. Aber sie hat einen sehr hohen Preis dafür bezahlt.

Was hat Sie an »Vilhelms Zimmer« besonders fasziniert und dazu bewegt, dieses Werk auf die Bühne zu bringen?
Dieser letzte Roman von Tove Ditlevsen ist ihr kunstvollster, mit dem sie ihrer Zeit weit voraus war. Die Regisseurin Karin Henkel kam mit dem Buch auf uns zu. Sie war auf der Suche nach einem Stoff für die Schauspielerin Lina Beckmann, mit der sie eine langjährige Zusammenarbeit verbindet. Und dass gerade jetzt die deutsche Neuübersetzung erschienen ist, war dabei ein glücklicher Zufall! Die Sprache von Tove Ditlevsen ist fantastisch, sie zeichnet mit wenigen Sätzen groteske Figuren, hat einen leisen, schrägen Humor und zugleich eine existentielle Tiefe. Allerdings schreibt sie sehr prosaisch. Da liegt eine Dramatisierung nicht gerade auf der Hand. Aber genau darin besteht die Herausforderung für uns. Und so wie Tove Ditlevsen in ihrem Buch mit Realität und Fiktion spielt und verschiedene Formen und Textsorten wild durcheinander mischt, versuchen wir das auch auf der Bühne.
Das Gespräch führte Marie Fürst

»Die Abweichlerin«
Nach dem Roman »Vilhelms Zimmer« von Tove Ditlevsen, in der deutschen Übersetzung von Ursel Allenstein
Regie: Karin Henkel
Deutschsprachige Erstaufführung am 12. März 2025 am Schauspielhaus Hamburg
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Die erste Tove-Biographie von Bestseller-Autor Jens Andersen
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Jens Andersen erzählt in dieser Biographie aus Tove Ditlevsens Leben, von dem unwahrscheinlichen Weg, den sie als Schriftstellerin gegangen ist, ihrem turbulenten Werdegang mit allen Höhen und Tiefen, ihrem Leben als Frau, Mutter und Künstlerin. Tove Ditlevsen schrieb Autofiktion, lange bevor das Wort erfunden wurde, und setzte sich und ihre Beziehungen kompromisslos in ihrer Literatur ein. Sie hatte eine paradoxe Sehnsucht nach einem geordneten bürgerlichen Familienleben, schaffte es aber nie, sich darin einzurichten. Zugleich schrieb sie gerade dann, wenn das Familienleben kompliziert wurde, ihre besten Texte. Sie liebte es, aufzutreten, und hatte einen überbordenden Humor und Sinn für Komik. In dieser Biographie werden die außergewöhnliche, lebenshungrige Seite ihrer Persönlichkeit, ihr zügelloser Freisinn und die radikale Modernität ihres Schreibens zum ersten Mal beleuchtet.