09. Jan. 2024

Sigrid Nunez über das Tagträumen, das lange Leben von Papageien und schöne Blumennamen

Sigrid Nunez über ihren neuen Roman »Die Verletzlichen«, aus dem Amerikanischen übersetzt von Anette Grube.

Die Verletzlichen
Empfehlung
Hardcover
22,00 €

Liebe Sigrid Nunez, kommt es vor, dass Sie morgens Pläne machen, was Sie den Tag über tun wollen? Aber dann setzen Sie sich wieder hin, trinken eine Tasse Kaffee oder Tee, schauen aus dem Fenster oder lesen etwas. So vergeht der Tag, und am Abend stellen Sie fest, dass das, was Sie eigentlich gemacht haben, nichts mit dem zu tun hat, was Sie am Morgen vorhatten?

Ja, ich gebe zu, dass es mir und meinen Plänen für den Tag manchmal so ergeht. Aber normalerweise versuche ich, morgens als Erstes an die Arbeit zu gehen und zu schreiben. Und wenn ich erst einmal gut gearbeitet habe, ist es mir eigentlich egal, wie der Rest des Tages verläuft.

Porträtfoto Sigrid Nunez
Autor:in

Sigrid Nunez ist eine der beliebtesten Autorinnen der amerikanischen Gegenwartsliteratur. Für ihr viel bewundertes Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet.

Ich wette, das ist Ihnen auch so gegangen, als Sie noch ein Kind waren?

Als ich ein Kind war, war ich eine große Tagträumerin. Ich habe wirklich die meiste Zeit in meinem Kopf gelebt – die allermeiste Zeit. Und das hat sich auch während des Studiums fortgesetzt. Bis ich etwa zwanzig war, hatte ich große Probleme beim Lernen, weil ich mich nicht gut konzentrieren konnte. Ich schaute auf die Uhr und stellte fest, dass eine Stunde oder mehr vergangen war und ich immer noch auf der gleichen Seite des Buches war, das ich eigentlich lesen sollte. Stattdessen hatte ich geträumt.

 

Und metaphorisch gesprochen: Was haben Sie sich von Anfang an vorgenommen zu verwirklichen? Was treibt Sie an? Ihr eigener Ehrgeiz? Eine Person, die Ihnen nahesteht, Erwartungen von anderen, die Gesellschaft?

Von klein auf wollte ich immer Gedichte und Geschichten und schließlich Bücher schreiben. Abgesehen von einer sehr kurzen Zeit, in der ich Tanz studierte und hoffte, Ballerina zu werden, war es immer mein Ziel, Schriftstellerin zu werden. Das war ein Ziel, das ich mir gesetzt hatte. Auf meinem Weg gab es Menschen, die mich ermutigten, vor allem bestimmte Mentorinnen, aber niemand drängte mich, Schriftstellerin zu werden, außer mir selbst.

 

Die Erzählerin in »Die Verletzlichen« hat ihr ganzes Leben lang alles an sich herangelassen. Der Kopf ist für sie ein Gefäß. Quasi ein Tresor, der Erinnerungen bewahrt, weil sie das sind, was ihr einmal bleibt. Sie verschlingt Bücher. Sie hat Literatur studiert. Was musste ihr (beim Lesen) passieren, damit sie erkannte, dass die Fähigkeit, sich zu erinnern, nicht das Wichtigste im Leben ist?

Die Erzählerin sagt, dass es nicht das Wichtigste ist, sich an das zu erinnern, was in einem Buch passiert, das man liest. Was zählt, ist das, was man beim Lesen erlebt, die Gefühlszustände, die die Geschichte hervorruft, die Fragen, die einem durch den Kopf gehen, und nicht die beschriebenen fiktiven Ereignisse. Im Leben hingegen ist das, woran wir uns erinnern, immer äußerst wichtig, denn ein Großteil dessen, was ein Mensch ist, hängt davon ab, wie er sich an seine Vergangenheit erinnert und wie er sie interpretiert.

 

In der Zeit von Januar 2020 bis Mai 2022 lebten die Menschen auf der ganzen Welt in Isolation. In all dieser Zeit, in der sie mit sich selbst allein gelassen oder von sehr wenigen Menschen umgeben waren, kamen sie zum Nachdenken. Als soziale Wesen müssen wir angesprochen werden. Wir brauchen Interaktion. Der Schriftstellerin in Ihrem Roman geht es genauso. Zum Glück, denn sonst wäre ihr gar nicht aufgefallen, dass es keine Blumen mit hässlichen Namen gibt.

Wie die meisten Schriftsteller ist auch die Erzählerin eine aufmerksame Beobachterin, die genau auf ihre Umgebung achtet. Manche würden sagen, dass diese Fähigkeit der Schlüssel zum guten Schreiben ist.

 

Es gibt Figuren in ihrem Roman, die nach Blumen benannt sind. Zum Beispiel Camellia und Jasmin. Man könnte meinen, ein Florist hätte Ihnen geholfen, den Tisch für den Roman zu decken. Gleichzeitig wächst beim Anblick des Covers die Erwartung, dass ein Papagei eine gewisse Rolle spielt. Es gibt Papageienarten, die 50 oder sogar 60 Jahre alt werden können und denen man ein sehr gutes Gedächtnis nachsagt. Die Freundin mit dem Namen Iris weiß eine Menge darüber. Stimmt das? 

Es ist wahr, dass Papageien sehr lange leben können. Und so kann niemand sagen, was die Zukunft für Eureka, den Papagei, bringen wird. Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass er die Erzählerin überleben wird. Wie viele Menschenleben wird Eureka am Ende seines Lebens gelebt haben?

 

Die Schriftstellerin des Romans vergleicht ihre Erfahrungen mit Handlungen und Ereignissen, über die sie in Romanen gelesen hat. Will sie, dass große Schriftsteller ihre Entscheidungen bestätigen?

 Nein, es hilft ihr zu denken, dass andere – nicht nur große Schriftsteller – ähnliche Erfahrungen wie sie gemacht haben, dass sie die gleichen Freuden und Sorgen im Leben geteilt haben. Aber sie erwartet von niemandem, dass er die Entscheidungen, die sie für ihr eigenes Leben trifft, bestätigt.

 

Was wir aus Büchern erfahren, ist eng mit dem verbunden, was wir über das Leben wissen. Stimmt das?

Die meisten Bücher, die wir lesen, handeln von irgendeinem Aspekt des Lebens, ja.

 

Ist es dann nicht unlogisch, dass uns manchmal das Spätwerk eines Künstlers weniger anspricht als sein Frühwerk?

Ich denke nicht, dass es unlogisch ist. Bei manchen Künstlern ist das einfach so.

 

Macht uns das Älterwerden auf eine gute Art und Weise sensibler?

Ich habe Menschen erlebt, die im Alter mitfühlender, einfühlsamer und geduldiger gegenüber anderen geworden sind. Das ist natürlich eine gute Sache. Andere Menschen werden starrer und intoleranter, als sie es in ihrer Jugend waren. Und sie können auch gemein, stur und jähzornig werden. Ich glaube, das passiert, wenn ein Mensch ein enttäuschendes Leben hinter sich hat, oder wenn jemand körperliche Beschwerden hat, die das Altern oft mit sich bringt.

 

Gute Autoren schreiben sich und ihre Bücher in die Ewigkeit ein. Ist das etwas, das Sie als beruhigend empfinden?

Ich bin froh, dass viele große Schriftsteller Werke geschrieben haben, die noch lange nach ihrem Tod Bestand haben. Aber ich selbst denke nicht an die Ewigkeit. Wenn ich das täte, würde ich eine schlimme Schreibblockade bekommen.

Das Interview führte Christian Dunker für Nr. 21 © Geistesblüten. Abdruck mit freundlicher Genehmigung.

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