12. Juli 2022

Sigrid Nunez über ihren autobiographischen Debütroman »Eine Feder auf dem Atem Gottes«

»Eine Feder auf dem Atem Gottes« ist ein faszinierender Roman über Familie, Migration und das Aufwachsen in New York City. Im Interview - übersetzt von Anette Grube - erzählt Bestseller-Autorin Sigrid Nunez, wie sie heute auf ihren ersten Roman blickt, was sie mit Deutschland verbindet und woher die Inspiration für den Titel des Buches stammt.

Ihr Debütroman wurde zum ersten Mal 1995 veröffentlicht. Die Themen, über die Sie in diesem ersten Buch schrieben, sind jetzt so aktuell wie damals: einen Platz in der Welt zu finden, Liebe, Familie und die Erfahrung der Migration … Wie blicken Sie auf das zurück, was Sie vor über 25 Jahren geschrieben haben?

Es ist immer ein bisschen schwierig die eigenen frühen Werke zu lesen. Ich finde viele Dinge im Text, die ich wünschte besser gemacht zu haben – oder zumindest anders. In diesem Fall bin ich jedoch vor allem erstaunt über die große Ähnlichkeit zwischen der Erzählerin dieses Romans und den Erzählerinnen meiner zwei jüngsten Romane, »Der Freund« und »Was fehlt dir«. Es ist die gleiche Stimme, die gleiche Art und Weise, die Welt zu betrachten, die gleichen thematischen Anliegen, insbesondere Liebe und Verlust. Allerdings beschäftigten mich damals vor allem Familie und Liebesbeziehungen und nicht die Beziehungen zwischen Freunden. Freundschaft wird erst in meinen späteren Büchern zu einem wichtigen Motiv.

Eine Feder auf dem Atem Gottes
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Sprache und das Fehlen einer gemeinsamen Sprache sind ein zentrales Thema des Buchs. Tanz und körperlicher Ausdruck ein anderes. Inwiefern hat Ihnen das Ballett dabei geholfen, auf so umfassende Weise über Kommunikation zu schreiben?

Ich glaube nicht, dass der Ballettunterricht auf direkte Weise zu meinem Schreiben beigetragen hat. Allerdings hat er mich viel über Disziplin und hartes Arbeiten gelehrt, und diese Eigenschaften sind im Leben einer Schriftstellerin natürlich von großer Bedeutung. Wichtiger noch ist, dass ich zwar unbedingt professionelle Tänzerin werden wollte, dabei jedoch scheiterte. Und da habe ich begriffen, dass wir aus unserem Scheitern viel mehr lernen als aus unseren Erfolgen. Scheitern und der Umgang damit formen den Charakter auf ganz maßgebliche Weise, und ich bin mit denen einer Meinung, die behaupten, dass man scheitern muss, um wahren Erfolg im Leben zu haben.

 

Im Roman gibt es eine Stelle, an der die Erzählerin darüber nachdenkt, dass ihr Vater nie würde lesen können, was sie schreibt, sollte sie Schriftstellerin werden. Ihr Vater, ein chinesisch-panamaischer Einwanderer, der in den USA lebte, hat nie wirklich Englisch gelernt. Glauben Sie, dass Sie so frei über Ihre eigene Familie schreiben konnten, weil ein Elternteil nicht in der Lage war zu lesen, was Sie schrieben? Und war das Buch ein Weg, sich von Ihrer Familie zu befreien?

Ich wollte mich nicht von meiner Familie befreien, ich wollte verstehen, wer sie waren – und wer ich als Teil dieser Familie war. Mein Vater war in der Lage, auf einem elementaren Niveau Englisch zu lesen und zu schreiben, aber er las nie Bücher, gleichgültig in welcher Sprache, und meine literarischen Ambitionen interessierten ihn nicht. Deswegen musste ich annehmen, dass er meine Bücher nie lesen würde. Ich habe mehrere asiatisch-amerikanische Schriftstellerfreunde, deren Eltern ihre Bücher auch nicht gelesen haben, aber nicht, weil sie Englisch nicht beherrschen würden, sondern weil sie die Schriftstellerei nicht als ernsthaften Beruf betrachten. Doch vermutlich ist es tatsächlich einfacher, frei über eine Person zu schreiben, ob Familienmitglied oder nicht, wenn man sicher ist, dass diese Person es nie lesen wird.

 

Deutschland ist ein wichtiger Bezugspunkt im Buch. Ihre Mutter ist Deutsche und wuchs während der Nazi-Zeit im Südwesten des Landes auf. Ihre Perspektive auf Deutschland und die der Erzählerin sind durch die Erziehung Ihrer Mutter beeinflusst. Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Deutschland beschreiben? Und wie hat es sich im Lauf der Jahre verändert?

2005 hatte ich für fünf Monate das große Privileg, Stipendiatin der American Academy in Berlin zu sein. Leute, die Berlin kannten, versicherten mir, dass es mir gefallen würde. Es ist wie ein deutsches New York, sagten sie, aber mit einem langsameren Rhythmus und ohne die Kriminalität. Und ich fühlte mich dort tatsächlich zu Hause. Es erschien mir wirklich wie ein deutsches New York, und weil ich halb deutsch und eine geborene New Yorkerin bin, ist das vermutlich keine Überraschung. Viele Jahre zuvor, gleich nach dem Abschluss der Universität, besuchte ich Deutschland und Österreich, und obwohl ich den Besuch wirklich genoss, kam ich mir immer wie eine Touristin vor, das heißt als Außenseiterin. Doch Berlin ist eine der ganz wenigen Städte abgesehen von New York, in der zu leben ich mir gut vorstellen kann. Und selbstverständlich ist mir völlig klar, dass das Deutschland, in dem meine Mutter aufgewachsen ist, und das Deutschland, in dem ich heute zufrieden leben könnte, zwei auf dramatische Weise unterschiedliche Länder sind.

 

Und schließlich eine Frage zum Titel des Buchs. Was hat sie inspiriert, es »Eine Feder auf dem Atem Gottes« zu nennen?

Seitdem ich sie zum ersten Mal bei Hildegard von Bingen gelesen habe, fand ich »eine Feder auf dem Atem Gottes« eine wunderbare Formulierung. An einer Stelle im Buch fragt sich die Mutter der Erzählerin, wie sie nur nach Brooklyn gekommen ist, so weit weg von zu Hause. Es scheint ihr, als wäre sie dorthin geweht worden wie eine Feder. Später, in dem Teil über Ballett, spreche ich davon, wie sehr sich die Tänzerin danach sehnt, gewichtslos zu sein, leicht wie eine Feder, und an dieser Stelle zitiere ich Hildegards Formulierung: »Eine Feder auf dem Atem Gottes.« Es schien ein guter Titel sowohl für diesen Teil als auch für das ganze Buch.

Übersetzt von Anette Grube

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