10. Apr. 2024

Claudia de Rham über die Schönheit des Fallens

Als Taucherin und Pilotin spielt Claudia de Rham mit den Effekten der Schwerkraft. 2009 verhindert ein Schicksalsschlag ihren Traum, dem Geheimnis der Gravitation als Astronautin auf die Spur zu kommen. Seither fordert sie mit ihrer Arbeit als theoretische Physikerin die Grenzen der Allgemeinen Relativitätstheorie heraus. In »Die Schönheit des Fallens«, übersetzt von Hainer Kober, schreibt sie auf ganz persönliche und erhellende Art und Weise davon, wie Schwerkraft den gesamten Kosmos zusammenhält.

Im Interview mit der Princeton University Press spricht sie über ihr Buch und die Bedeutung der Gravitation, im Privaten wie in der Wissenschaft.
Die Schönheit des Fallens
Empfehlung

Auf der Suche nach dem Geheimnis der Gravitation
Hardcover
26,00 €

Was ist Schwerkraft genau und woher rührt deine Leidenschaft für sie?  

Wir alle haben mehr oder weniger konkrete Vorstellungen davon, was Schwerkraft ist; doch für ein fundamentales Verständnis haben wir noch nicht einmal die richtige Sprache entwickelt. Die meisten von uns verbinden Schwerkraft damit, dass etwas auf den Boden fällt. Schwerkraft fordert uns Menschen aber auch täglich heraus, zum Beispiel, wenn wir einen steilen Berg erklimmen. Aber für mich liegt eine besondere Schönheit im Fallen.

Obwohl, oder vielleicht gerade weil sie uns herausfordert, lieben wir es, der Schwerkraft zu trotzen. Kinder lernen, statt von ihr überwältigt zu werden, schnell, mit ihr zu spielen, sei es durch das unermüdliche Werfen von Spielzeugen vom Hochbett, nur um sie fallen zu sehen, oder beim Schaukeln auf dem Spielplatz.

Natürlich dient die Schwerkraft nicht nur unserem Vergnügen hier auf der Erde. Schwerkraft ist das, was unsere Füße fest auf dem Boden hält, doch tatsächlich hat sie die Erde und das gesamte Sonnensystem überhaupt erst ermöglicht! Sie ist es, die die ganze Galaxie und ihre Milliarden von Sternen hat entstehen lassen. Durch sie konnten das Universum und nicht zuletzt das Leben sich so entwickeln, wie sie es getan haben. Und selbst das kratzt noch nicht einmal an der Oberfläche dessen, wie fundamental die Schwerkraft ist. Sie lässt Raum und Zeit lebendig und zu realen Akteuren im sich entfaltenden Universum werden. Der Schwerkraft kann man sich nicht entziehen. Sie verbindet alles mit jedem, überall, jederzeit; sie ist in jeder Hinsicht universell.

Porträtfoto Claudia de Rham
Autor:in

Claudia de Rham, 1978 in Lausanne geboren, ist Professorin für theoretische Physik am Imperial College London und Mitglied der American Academy of Arts and Sciences.

Dein Buch ist sehr persönlich. Möchtest du von den Parallelen erzählen, die du zwischen dem Wirken der Schwerkraft in der Natur und deinem eigenen Leben ziehst? 

Einsteins allgemeine Relativitätstheorie besagt, dass wir die Schwerkraft durch die Krümmung des Raum-Zeit-Gefüges, in dem wir leben, spüren. Schwerkraft ist der Faden, der verschiedene Punkte dieses Gefüges miteinander verbindet. Von der Krümmung unserer Erde kennen wir das Phänomen, dass ihre Oberfläche aus der Nähe betrachtet flach erscheint. Erst wenn wir zwischen verschiedenen Orten auf der Erde vergleichen, stellt sich ihre Oberflächenkrümmung heraus. Wenn man beispielsweise von einer Seite des Planeten zur anderen fliegen möchte und die Krümmung der Erde berücksichtigt, ist oft eine Route über den Nordpol oder andere entlegene Landschaften der direkteste Weg. 

Auch das Leben ist keine zusammenhangslose Aneinanderreihung von Ereignissen; wir verleihen den Ereignissen Bedeutung, indem wir sie miteinander verbinden und uns an komplexe Situationen anpassen. Von außen mag unser Lebensweg oft ziemlich gewunden und ungewiss erscheinen, insbesondere wenn man eine ungewöhnliche Karriere wählt oder aus benachteiligenden Verhältnissen kommt. Uns selbst kommt unser Lebensweg allerdings so geradlinig vor, wie uns die Erde flach erscheint. 

Ein weiterer Aspekt, der für mich persönlich, aber auch für die Schwerkraft und die wissenschaftliche Forschung wesentlich ist, ist der des Scheiterns. In der Forschung, in der Wissenschaft und  im Leben kann die Bedeutung von Fehlern und dem Wachsen daran nicht genug betont werden. Als Forschende lernen wir nur durch Versuche und Fehler, indem wir uns erlauben zu fallen und wieder aufzustehen. 

Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie ist unsere bisher beste Annäherung an die Schwerkraft. Sie wurde mit makelloser Präzision auf einem breiten Spektrum von Skalen geprüft. Doch es gibt eine Sache, die ich für wirklich bemerkenswert halte: dass sie ihr eigenes Versagen voraussagt. Wir wissen nicht genau, was jenseits der Allgemeinen Relativitätstheorie kommt, aber wir wissen sicher, dass sie nicht die vollständige Beschreibung der Natur sein kann. Was ihr folgen wird, ist unklar, aber es steckt großes Potenzial im Anerkennen dieses Versagens. 

Das ist für mich mehr als nur eine Metapher. Mehr als 20 Jahre meines Lebens habe ich darauf hingearbeitet, Astronautin zu werden, nur um aus Gründen, die außerhalb meiner Kontrolle lagen, daran zu scheitern. So ist das Leben. Hätte ich immer noch jahrelang trainiert und mich dem starken Druck ausgesetzt, wenn ich von Anfang an gewusst hätte, dass es nicht gelingt? Ich würde gerne glauben, ja. Mit dem Versagen konfrontiert zu sein, ist ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Erfahrung; in der Forschung und dem Verständnis der Schwerkraft ist es ein integraler Bestandteil des Fortschritts.

 

Abdruck mit freundlicher Genehmigung von Princeton University Press 

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