12. Apr. 2023

»Artenvielfalt kehrt von selbst zurück – durch die Selbstheilungskräfte der Natur«

»Rewilding« ist Simone Böckers Antwort auf die Klimakrise. In ihrem Buch plädiert sie dafür, die Natur wieder mehr sich selbst zu überlassen, um intakte Ökosysteme wiederherzustellen. Welche erfolgreichen Rewilding-Projekte es bereits gibt und was wir im Hinblick auf Miteinander und Glück aus ihnen lernen können, verrät die Autorin im Gespräch.

Liebe Frau Böcker, Ihr Buch über »Rewilding« ist eines der ersten zum Thema. Dabei ist das Konzept ein so wichtiges im Zeichen von Klimakrise und Artensterben. Wie sind Sie eigentlich darauf gestoßen? Und könnten Sie für uns »Rewilding« in wenigen Sätzen definieren?

Ich beschäftige mich schon lange mit Wildpflanzen und Themen wie Ernährung und Landwirtschaft. Das alles spielte für mich immer mehr zusammen: Wie produzieren wir unsere Lebensmittel, ohne dabei Artenvielfalt und Lebensräume zu zerstören? Auch persönlich beobachtete ich den Verlust von Lebensräumen für Tiere und Wildpflanzen. Meine Frage war also: Wie können wir Ökosysteme bewahren? Rewilding bietet eine umfassende Antwort: Weil es Ökosysteme nicht bewahren, sondern sie wieder herstellen will! Indem wir Natur Platz geben und möglichst nicht mehr eingreifen, so dass natürliche Prozesse wieder ablaufen können. Artenvielfalt kehrt auf diese Weise von selbst zurück – durch die Selbstheilungskräfte der Natur.

 

In ihrem Buch schildern Sie eindrucksvoll erfolgreiche Rewilding-Projekte. Zum Beispiel im Yellowstone-Nationalpark, in dem Wölfe für ein neues ökologisches Gleichgewicht sorgten, aber auch vor unserer Haustür. Welches europäische Rewilding-Projekt hat Sie besonders begeistert und warum?

Rewilding
Empfehlung

Auf der Suche nach einem Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur
Hardcover
24,00 €

Das Oder Delta an der deutsch-polnischen Ostseeküste ist ein großartiges Beispiel dafür, wie Landschaften aussehen können, die nicht in erster Linie vom Menschen genutzt werden. Es gibt sehr wenig Infrastruktur, Natur kann sich weitgehend selbst entfalten. Hier kann man beobachten, wie Wölfe, Elche und Wisente, Seeadler und viele weitere Tierarten zurückkehren und die Landschaft formen. Es ist wunderschön zu erleben, wie vielfältig und lebendig Natur aussehen kann, wenn der Mensch nicht ständig eingreift. Flüsse, die nicht eingehegt sind, Naturwiesen, Sümpfe, Moore, Weiden, auf denen nur wenige Kühe grasen – diese Art von schonender, extensiver Nutzung ist ein Beispiel dafür, wie Mensch und Natur harmonisch zusammenleben können. Dies ist auch in anderen Rewilding-Gebieten zu beobachten.

 

Sie lassen im Buch auch untergegangene Welten wiederauferstehen – eine Zeit, in der Mammuts und Bisons in unseren Landstrichen umherstreiften. Warum spielen Vertreter dieser sogenannten Megafauna beim Rewilding eine Rolle, z.B. im sogenannten Pleistozän-Park in Sibirien? Und weshalb starben sie überhaupt aus?

Die Megafauna – also große Pflanzenfresser – haben eine unterschätzte Bedeutung für Ökosysteme. Durch ihr Fressverhalten beeinflussen sie ihre Umgebung, sie sind wahre »Landschaftsarchitekten«. Sie sorgen für ein Mosaik aus offenen Graslandschaften und Wald. Diese Kombination ist sehr wertvoll für die Artenvielfalt – wertvoller als beispielsweise Wald allein – da sie viele Lebensräume für unterschiedliche Tierarten bietet. Bisons, Mammute, Elche sind im Laufe der Geschichte vom Menschen ausgerottet worden, deswegen fehlt ihr wichtiger Beitrag – genauso wie der des Wolfs und anderer Tiere, die nicht mehr natürlicherweise bei uns vorkommen. Sie gehören zu den sogenannnten »Schlüsselarten«, weil sie eine wichtige Funktion im Ökosystem einnehmen. Rewilding bedeutet auch - wo es nicht von selbst passiert - diese Tiere wieder zurückzubringen und dadurch das komplexe Netzwerk an natürlichen Wechselbeziehungen wiederherzustellen.

 

In letzten Drittel Ihres Buchs kommen Sie immer wieder auf die Naturbeziehung indigener Völker zu sprechen. Was können wir von diesen in Bezug auf den Umgang mit Pflanzen und Tieren lernen?

Die Beziehung zur Natur ist für mich der Schlüssel für unser Verhalten der Natur gegenüber. Auch wenn viele Menschen Natur lieben, ist unser Verhältnis doch sehr pragmatisch: Natur soll uns dienen, und ökonomisch nutzen wir Natur als Ressource für unseren Lebensstandard. Hierbei haben wir jegliche Verhältnismäßigkeit verloren. Wir nehmen weit mehr, als die Natur geben kann! Hier kommen indigene Kulturen ins Spiel: Natur wird bei ihnen als gleichwertig gesehen. Tiere, Pflanzen, auch Berge oder Flüsse sind belebte »Wesen« und haben ein Existenzrecht, das nicht einfach übergangen werden kann. Es geht im Zusammenleben um ein Nehmen und Geben, um ein Miteinander, um Dankbarkeit und Respekt. Für uns ist das schwer nachzuvollziehen, wir stellen uns und unsere Bedürfnisse in den Mittelpunkt und erleben uns nicht als Teil des Ganzen. Dabei verstehen wir nicht, dass wir mit dieser Haltung nicht gewinnen können. Im Gegenteil: wie wir sehen, zerstören wir nicht nur die Lebensgrundlage aller anderen Lebewesen, sondern auch unsere eigene.

 

Sie plädieren dafür, mehr Wildheit zu wagen. Im Buch geben Sie Tipps, wie das jeder und jede Einzelne zu kann, in Bezug auf die Natur, aber, und das finde ich besonders interessant, auch auf unser alltägliches Leben. Inwiefern prägt Ihres Erachtens unser Verhältnis zur Natur auch unseren Umgang mit uns selbst und mit anderen Menschen?

Meiner Meinung nach geht es um Kontrolle. Rewilding bedeutet, Kontrolle aufzugeben und Natur den Lauf der Dinge zu überlassen. Wir müssen uns nicht ständig einmischen. Dieses Prinzip kann man auch auf das eigene Leben übertragen. Wie wäre es, nicht immer alles kontrollieren zu wollen? Was »wächst« stattdessen von selbst? Es ist die Einladung zu mehr Entspanntheit im eigenen Leben. Kontrolle ist gut, Vertrauen ist besser! Mit diesem umgekehrten Motto entsteht eine eigene Dynamik – genauso wie beim Rewilding. Man muss nicht ständig mit viel Aufwand »managen«, das Leben bekommt stattdessen einen eigenen, organischen Flow. Letztlich geht es mir auch um die Frage nach einem glücklicheren Leben: Die destruktive, auf uns allein fokussierte Haltung zu überwinden und Glück in einem empathischen, auf Gegenseitigkeit basierendem Miteinander zu finden. Das muss nicht Verzicht bedeuten – ich glaube, wir können dabei Glück und Lebensqualität gewinnen.

Auch im Gespräch