31. Aug. 2022

Édouard Louis über sein neues Buch, die Frauen seines Lebens, Freundschaft und Begehren

Édouard Louis hat ein großes Buch geschrieben darüber, wie man sich mit unbändiger Energie radikal neu erfindet. Am 6. September 2022 erscheint sein neuer Roman »Anleitung ein anderer zu werden«, übersetzt aus dem Französischen von Sonja Finck.

Worum geht es in Ihrem neuen Buch?

In meinen ersten Büchern habe ich über die Dynamiken von Gewalt geschrieben: Gewalt, die Leben zerstört, Klassengewalt, homophobe Gewalt, männliche Dominanz. Mit dem neuen Buch wollte ich ein neues Kapitel aufschlagen. Ich wollte mir das Gegenteil anschauen: Dynamiken von Befreiung und Veränderung. Wir alle unterliegen bestimmten Erwartungen, die an uns gerichtet sind, wer wir sein sollen, wie wir leben sollen, als gute Mutter zum Beispiel, als Schwarze Person oder als jemand, der queer ist. All diese Kategorien, über die wir definiert werden, und unser Wunsch, aus ihnen auszubrechen. In »Anleitung ein anderer zu werden« denke ich über die Kraft der Befreiung und Veränderung nach.

Anleitung ein anderer zu werden
Empfehlung

Woher stammt der Titel des Romans? Bei »Anleitung ein anderer zu werden« denkt man unwillkürlich an einen Ratgeber?

Das Buch erzählt eigentlich eine einfache Geschichte: Die Geschichte eines Jungen – ich –, der in der Schule für sein Schwulsein und Anderssein gemobbt wird, und dann sein ganzes Leben versucht, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen, sich zu rächen für diese schmerzhafte Erfahrung. Es ist die Geschichte, wie er zu einem anderen wird, die Odyssee seiner Veränderung. Er geht diesen Prozess ganz bewusst und geradezu methodisch an, sagt sich, eines Tages werde ich es zu etwas bringen, ich werde etwas aus mir machen, und diese Typen, die mich drangsaliert haben, werden bereuen, was sie mir angetan haben. Ich werde einen anderen Namen annehmen, mich körperlich verändern, ich werde anders sprechen und lachen. Daher das Wort »Anleitung«. Letzten Endes fragt das Buch danach, ob der Versuch der Befreiung und Veränderung wirklich das gebracht hat, was man sich erhofft hat. Hat man das Leben gefunden, von dem man als kleiner Junge geträumt hat, als man dachte, eines Tages werde ich es in die Stadt schaffen, ein anderer werden, und die Leute werden mich lieben? Das Wort »Anleitung« ist in diesem Sinne bittersüß und thematisiert genau diese Frage.

Edouard Louis

Es scheint mir, als ließe sich alles, was Sie erreicht haben, auf Ihr Begehren und den Hass, den es provoziert, zurückführen. Sehen Sie das auch so?

In gewisser Weise führt »Anleitung ein anderer zu werden« das fort, was ich mit »Das Ende von Eddy« angefangen habe. Schon darin ging es mir darum, gegen den Mythos, das Narrativ des begabten Kindes anzuschreiben, das seiner Kindheit entfliehen kann, weil es klüger und sensibler als die anderen ist. Dieser Mythos des Wunderkinds strukturiert viele Geschichten in der Literatur, auch die allerbesten. Schon in Stendhals Roman »Rot und Schwarz« gibt es den Jungen Julien, der liest und als sehr sensibel und klug dargestellt wird, während sein Vater laut und grob ist.

In meinem Buch möchte ich etwas zeigen, was man das Paradox der Dominanz nennen könnte: Manchmal ist es so, dass, gerade weil man stärker unterdrückt wird als andere, man mehr Chancen hat, sich zu befreien als andere. Das ist die Geschichte von »Anleitung ein anderer zu werden«: Es war nicht mein Begehren, mich zu verändern. Es war die Welt, in der ich als homosexueller Junge mit meinem Körper lebte und stärker ausgeschlossen war als andere. Genau das gab mir die Gelegenheit, die Welt um mich herum in Frage zu stellen und aus ihr zu fliehen. Es ist also in dem Sinne kein persönliches Begehren, sondern ein Begehren, das reflektiert, wie eine Gesellschaft funktioniert. Und mir geht es darum, die Geschichte einer Befreiung zu erzählen, ohne Gewalt zu reproduzieren gegen die, die nicht die Chance hatten, sich zu befreien.

 

Im Buch schreiben Sie an einer Stelle, dass es vor allem Frauen waren, die Ihnen auf Ihrem Weg, ein anderer zu werden, geholfen und Türen geöffnet haben. Lehrerinnen, Bibliothekarinnen, Buchhändlerinnen, Frauen am Theater.

Ja, da gab es viele Frauen, die mir Zufluchtsräume geschaffen haben, in dem sie mir eine andere Art zu leben und zu denken gezeigt haben. Alles, was in meiner Kindheit und meiner Familie zuhause an mir als negativ wahrgenommen wurde, nahmen die Lehrerinnen in der Schule positiv wahr. Ich war stiller als die anderen Jungs, ich mochte es nicht, mich zu prügeln. Zuhause nannte man mich deswegen Pussy, bei den Lehrerinnen war es etwas, das mich auszeichnete.

 

Sehen Sie »Anleitung ein anderer zu werden« auch als ein Buch über Freundschaft?

Ja, das ist es. Ein Buch über Freundschaft als Modus, sich zu verändern. Freundschaft ist der Ort, an dem wir experimentieren, neue Leben ausprobieren. Viele Menschen leben Freundschaften als einen kleinen Teil ihres Lebens, Freundschaften finden hauptsächlich statt, wenn sie jung sind, als Teenager. Sie probieren viel aus, aber an einem bestimmten Punkt in ihrem Leben verlieren sie die Freundschaften, leben diese nur noch am Rand, am Wochenende. Indem ich im Buch ein Porträt von Freundschaft als verändernde Kraft entwerfe, stelle ich die Frage: Welchen Platz räumen wir Freundschaften in unserem Leben ein, warum bekommen sie nicht mehr Raum? Ich wollte Leser:innen auch mit ihren eigenen Erinnerungen an Freundschaften konfrontieren. Als »Anleitung« in Frankreich erschien, kamen viele Leser:innen auf mich zu und sagten, ich hatte auch eine beste Freundin in meinem Leben, die mich zu einer komplett anderen gemacht hat. Aber die Leute reden über diese Freundschaften immer in der Vergangenheit, und das hat mich ein bisschen traurig gemacht. Auf eine Art ist »Anleitung« also auch ein Manifest für Freundschaft.

 

Als Jugendlicher haben Sie davon geträumt, Schauspieler zu werden. Inzwischen sind Sie an Theatern überall auf der Welt unterwegs und haben zuletzt an der Schaubühne in Berlin gespielt. Wie denken Sie über den Schauspieler Édouard Louis?

Was ich in meiner Arbeit versuche, ist, die Kraft, die von Autobiographischem ausgeht, mit Mitteln der Literatur zu erkunden. Ich denke, wir stehen da noch ganz am Anfang. Lange Zeit haben Autor:innen literarische Werke geschrieben und nebenbei Autobiographisches. Es waren zwei voneinander getrennte Dinge. Jetzt sind wir an einem Punkt, wo wir diese Trennung aufheben können. Es gab literarische Wegbereiter:innen wie Marguerite Duras, die uns die Türen geöffnet haben. Ich glaube, es geht da tatsächlich um etwas, gerade in dem konfrontativen Aspekt von autobiographischem Schreiben. Man kann beim Lesen nicht denken, ach, das ist ja nur eine Figur, nur ein Roman. Es gibt etwas, vor dem man nicht fliehen kann im Autobiographischen.

Wenn ich im Theater auf der Bühne stehe, versuche ich, das Arbeiten mit autobiographischem Material weiter zu erkunden und an einen Punkt zu treiben, an dem noch keiner war. Ich fühle mich dann auch nicht als Schauspieler, sondern eher als jemand, der mit Autobiographischem experimentiert.

 

Sie werden dieses Jahr 30. Es scheint, dass Sie eine besondere Nähe zu Künstlern und Autoren haben, die große Lebenserfahrung haben. Ich denke da an James Ivory, Ken Loach, Anne Carson, Sophie Calle, Nan Goldin oder Toni Morrison, die Sie noch kennengelernt haben.

Das sind alles Künstlerinnen und Künstler, die ich bewundere. Mit manchen von ihnen durfte ich arbeiten, und Sophie Calle wurde zu einer Freundin. Aber ich habe Alter oder Lebenserfahrung nie bewusst wahrgenommen. Ich habe Freunde, die 20 sind, andere sind Mitte 30, wie Assa Traoré, die sich gegen Polizeigewalt stark macht, andere sind 40, wie der Philosoph Geoffroy de Lagasnerie, oder eben 94  Jahre, wie der Regisseur James Ivory. Ich interessiere mich für Menschen, die kämpfen. Und es geht nicht darum, nur innerhalb derselben Generation zu bleiben, sondern das Gespräch zwischen den Generationen offen zu halten.

 

Die Fragen stellte Marc Iven.

Das Interview erscheint im Magazin Geistesblüten, Ausgabe Nº 19.

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der © Geistesblüten.

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