05. Sep 2022

Ulrich Schnabel über Gemeinsinn, die Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts

Fake News, Populismus, Klimakrise – nie war Gemeinsinn notwendiger als heute. Bestsellerautor Ulrich Schnabel gibt in seinem neuen Buch »Zusammen« klug und unterhaltsam eine Anleitung, wie wir die vergessene Tugend zum Leben erwecken können und wie Kooperation wieder gelingt.

Klimawandel, Pandemien und Verschwörungsdenken stellen unsere Gesellschaft vor eine enorme Zerreißprobe. Um sie zu meistern, braucht es nicht mehr Technik oder Wettbewerb, sondern die Schlüsselkompetenz des 21. Jahrhunderts: Gemeinsinn. Diese vergessene Tugend ist in uns allen angelegt, wie sich in psychologischen Experimenten, bei Stammesvölkern, aber auch in Krisen- und Kriegssituationen zeigt. Doch es braucht den richtigen politischen Rahmen, um sie wieder zu stärken.

Bestseller-Autor Ulrich Schnabel verwebt Erkenntnisse aus Anthropologie und Sozialpsychologie, Ökologie und Ökonomie – und zeigt, warum Gemeinschaft Leben verlängert, wie Kooperation gelingt und warum individuelle Freiheit nur in Gesellschaften gedeihen kann, die einen gemeinsamen Konsens finden.

Die Entscheidung, welche Aspekte des sozialen Zusammenlebens haupt- bzw. nebensächlich sind, ist gar nicht so leicht. Falls Sie jedoch eine Empfehlung wünschen, können Sie sich dem untenstehenden Selbstttest unterziehen, um herauszufinden, welcher Lesetyp Sie sind.

Der erste wichtige Schritt in Richtung Gemeinsinn ist zweifelsohne die gelungene Kommunikation miteinander. Zu oft verlieren wir uns in oberflächlichem Small Talk, seichtem Gerede oder Tratsch. Stattdessen stellt Ulrich Schnabel das »Konversationsdinner« vor, eine Art Fragenkatalog zu essenziellen und existenziellen Themen. Suchen Sie für jeden Gang eines Abendessens eine Frage aus und »verspeisen« Sie sie genüsslich.

 

Das Konversationsdinner (Auszug aus »Zusammen«)

 

Gemeinsam Essen und Reden – nichts klingt einfacher als das. Doch nicht immer entsteht dabei die positive Energie des Zusammenseins. Redet man über heikle Themen wie Politik, Religion oder Kindererziehung, kann ein gemeinsames Essen leicht im Streit enden. Manche flüchten sich des- halb vorsichtshalber in small talk und äußern nur Belanglosigkeiten; dann wieder gibt es Konversationen, in denen die Gäste vor allem damit beschäftigt sind, sich ins rechte Licht zu rücken und Ihren Status zur Schau zu stellen. All das fördert nicht den Zusammenhalt, sondern stört ihn eher.

Der Historiker, Soziologe und Philosoph Theodore Zeldin schlägt deshalb eine andere Form des Austauschs vor: das von ihm konzipierte »Konversationsmenü«. Der gebürtige Israeli, der an der University of Oxford das Centre for International Studies mitbegründete, möchte den Menschen helfen, wieder ehrliche und tiefgründige Gespräche zu führen. Dazu werden sie von einem »Gesprächsmenü« geleitet, das (zum Teil kuriose) Fragen und Themen enthält und aus dem sich die Diskutanten gemeinsam einige auswählen. Die Fragen umgehen einerseits die klassischen Klischeethemen (»Und was arbeiten Sie so?«) und vermeiden andererseits das übliche Klatsch-und-Tratsch-Niveau (...)

Die Teilnehmenden werden zufällig in Paare eingeteilt, die mindestens zwei Stunden lang nur miteinander sprechen. Geleitet von den Fragen des »Menüs« erörtern sie Themen, über die man normalerweise kaum spricht (geschweige denn mit Fremden). Zusätzlich denken beide gemeinsam darüber nach, wie ihre Lebenserfahrung für andere nützlich sein könnte. Auf diese Weise können tiefgehende Gespräche entstehen, in denen beide mit den (sonst verborgenen) Gedanken und Erfahrungen eines anderen konfrontiert werden. Das macht nicht nur Freude, sondern ist auch eine ideale Methode zur Stärkung des Gemeinsinns.

Zeldins Stiftung Oxford Muse wacht allerdings streng über ihren Fragenkatalog und duldet keine Veröffentlichung außerhalb der Abendessen. Man kann sich aber von dem herrlichen Fragenbuch »Findet mich das Glück?« des Künstlerduos Fischli und Weiss inspirieren lassen (oder seine eigene Fantasie spielen lassen) und so zu originellen Fragen kommen, die weder im Tagesaktuellen hängen bleiben noch ins Seichte abrutschen, sondern auf jene existenzielle Ebene zielen, die wir miteinander teilen.

Als Anregung kann man beispielsweise mit dem folgenden Fragenmenü starten (und es durch weitere eigene Ideen ergänzen). Wählen Sie zu jedem Gang gemeinsam eine Frage aus und »verspeisen« Sie diese genüsslich:

 

Vorschlag für ein Fragenmenü

Vorspeise

  • Wenn es eine Zeitmaschine gäbe, wohin würden Sie reisen?
  • Welche Erfahrungen mit einem Tier haben Sie geprägt und was haben Sie dabei gelernt?
  • Welches Reise-Erlebnis hat Sie nachhaltig verändert und woran haben Sie die Veränderung bemerkt?

Hauptspeise

  • Was wissen Sie wirklich sicher und was gibt Ihnen Sicherheit?

  • Wann haben Sie zum letzten Mal über ein wichtiges Thema Ihre Meinung geändert und warum?

  • Welchen Teil Ihrer Persönlichkeit mögen Sie am wenigsten und was stört Sie am meisten an anderen?

  • Was brauchen Sie, das Sie mit Geld nicht kaufen können?

  • Kann man Alles falsch machen?

Nachspeise

  • Könnte man Sie in einem guten Film gebrauchen und wenn ja in welchem und in welcher Rolle?
  • Wenn Sie aus allen Personen weltweit eine zum Abendessen auswählen dürften, wen würden Sie wählen und warum?
  • Hätte aus Ihnen etwas anderes werden können? Wenn ja, was?
  • Ist der Teufel zufrieden mit Ihnen?

 

Bei all dem geht es nicht um möglichst kluge Antworten, sondern vor allem um Entschleunigung und das allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Reden. Das heißt, man muss noch gar nicht so genau wissen, was man alles sagen wird, wenn man zu Reden beginnt. Einfach anfangen – und sich überraschen lassen, wohin die eigenen Gedanken führen.

Es kommt aber auch auf das Zuhören an. Normalerweise formulieren wir im Kopf oft schon Antworten oder Einwände, wenn wir jemandem zuhören. Dies nicht zu tun, erfordert regelrechte Anstrengung.

Und doch ist es für das Gelingen eines Konversationsmenüs essenziell: Möglichst offen und vorurteilslos sollte man seinem Gegenüber begegnen, das Gesagte nicht bewerten, sondern nur aufmerksam zur Kenntnis nehmen. Zugleich bedeutet dies, nicht innerlich abzuschweifen, heimlich aufs Handy zu schauen oder an etwas anderes zu denken.

Erst dieses stille Wohlwollen eröffnet den Sprechenden den Raum, auch ungewohnte und neue Gedanken zuzulassen. (Nach diesem Prinzip funktioniert übrigens auch die erfolgreiche Methode der »Zwiegespräche« für (Ehe-) und andere Paare, die der Psychoanalytiker Michael Lukas Möller empfiehlt.

Der wichtigste Tipp aber lautet, wie bei jedem Menü: Genießen. Genießen Sie Ihre Redezeit, ohne darüber nachzudenken, wie Ihr/e Gesprächspartner/in das findet; genießen Sie Ihre Zuhörzeit, ohne darüber nachzudenken, was Sie dazu sagen oder antworten sollen. Genießen Sie die Pausen und die Stille. All das ist Ihre Lebenszeit. 


Guten Appetit!

 

 

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