05. Sep 2022

»Die Weltverbesserer«: Knut Cordsen über das Jahrhundertphänomen Aktivismus

Von »Fridays for Future« über Greenpeace im Außenministerium bis hin zu »Artivisten« auf der documenta fifteen – Aktivismus ist überall. In »Die Weltverbesserer« erzählt Knut Cordsen mit feinem Humor und tiefer Sachkenntnis von einem Jahrhundert voll Aktivist:innen und setzt den Aktivismus der Gegenwart in einen historischen Kontext.

Du schreibst in deinem Buch vom Jahrhundert des Aktivismus. Womit setzte es ein? Und: Ist der Aktivismus des frühen 20. Jahrhunderts mit dem der Gegenwart vergleichbar?

Das ist ganz wörtlich zu nehmen, denn die Geschichte des Aktivismus beginnt in Deutschland vor rund hundert Jahren – mit Leuten wie dem späteren Friedensnobelpreisträger Carl von Ossietzky oder dem heute nahezu vergessenen Kurt Hiller, die den Begriff »Aktivismus« in Umlauf brachten. 1919 organisierte Hiller in Berlin den »Gesamtdeutschen Aktivisten-Kongress«, der ein ziemlicher Reinfall wurde und deshalb eine einmalige Angelegenheit bleiben sollte. Immerhin verabschiedete man damals eine Resolution, und in der kommt eine dogmatische Verhärtung und auch eine Enttäuschung über die Trägheit der Bevölkerung der aktivistischen Sache gegenüber zum Ausdruck: Phänomene, die mir äußerst aktuell erscheinen. Was den Aktivismus von damals allerdings fundamental vom heutigen unterscheidet, ist, dass seine prägenden Figuren heutzutage Frauen sind: Luisa Neubauer, Greta Thunberg oder Pia Klemp, um nur drei Beispiele zu nennen. Eine erfreuliche Bewegung weg von der früheren Männerdomäne Aktivismus, die sich ihrerseits der erfolgreichsten Form des Aktivismus im 20. Jahrhundert verdankt: dem Feminismus. Gerade las ich von einer Handreichung mit »Aktivistischen Ratschlägen für Frauen über 60«. Auch das ist neu: Menschen jedes Alters sind heute Aktivistinnen und Aktivisten.    

 

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Typisch für den Aktivismus ist, so schreibst du, seine Geschichtsvergessenheit. Was könnten heutige Aktivisten aus der 100-jährigen Geschichte des Aktivismus lernen?

Vermutlich ist diese Geschichtsvergessenheit dem Aktivismus notwendigerweise wesenseigen, denn ein Blick in die Historie würde viele Aktivisten entmutigen: Es braucht oft viele Jahrzehnte und also eine enorme Langmut, bis man aktivistische Ziele realisiert sieht. Wie lange musste für die Gleichberechtigung der Geschlechter gefochten werden, bis diese endlich gesetzlich verankert war! Vollends durchgesetzt hat sie sich bis heute nicht, wenn man auf die Gehaltsunterschiede sieht.  Bemerkenswert finde ich, dass die Aktivisten der ersten Stunde, die nach dem Ersten Weltkrieg zusammenfanden, 50 Jahre später sehr haderten mit den Aktivisten der Studentenrevolte von 1968 und über deren »puerilen Autismus« herzogen. Dieser Zwist zwischen den aktivistischen Fraktionen kennzeichnet ja auch unsere Zeit, wenn man nur darauf schaut, wie zerstritten Trans-Aktivist:innen und Feministinnen sind. Erstere scheinen gar nicht zu begreifen, dass sie auf den Schultern Letzterer stehen.

 

Aktivistinnen und Aktivisten nennst du auch »die Bewusstseinsgroßindustriellen unserer Tage«. Was sind typische aktivistische Strategien für die Erlangung medialer Aufmerksamkeit?

Das mit der »Ökonomie der Aufmerksamkeit« (Georg Franck) hat niemand so gut verstanden wie die Aktivistinnen und Aktivisten. Mein derzeitiges Lieblingsbeispiel sind die Mitglieder der Bewegung »Aufstand der letzten Generation«, die sich seit Monaten schon auf Straßen kleben und auf dem Asphalt fixiert den Verkehr blockieren. Das erzeugt starke Bilder, die sich dann in rasender Geschwindigkeit viral verbreiten. Weil diese Bewusstseinsgroßindustriellen die Wirkmacht von Bildern genau erkannt haben, gehen sie in Großbritannien, Frankreich und Italien neuerdings in Museen und Galerien, um sich an Gemälderahmen oder Sicherheitsgläser zu kleben - bevorzugt an Landschaftsidyllen aus früheren Jahrhunderten. Das Signal ist eindeutig: Der Frühling, wie ihn Sandro Botticelli auf seinem allegorischen Gemälde »Primavera« gemalt hat und wir ihn in den Uffizien in Florenz bewundern, wird nie mehr so schön sein, wenn wir nicht endlich konsequent das Erreichen unserer »Klima-Ziele« verfolgen. Mir gefällt an diesen Aktionen der »Ultima Generazione« oder von »Just Stop Oil«, dass sie die von Unternehmensaktivisten - denn auch die gibt es – gern gepredigte »Hands-on-Mentalität« auf ihre ganz eigene Weise auszulegen scheinen. Die Reichweiten, die solche Kampagnen generieren, sind beneidenswert.

 

Nirgends lässt sich diese Strategie so gut beobachten wie bei Twitter. #metoo war ja noch reines Empowerment, doch wo verläuft für dich bei Shitstorms die Grenze zum Missbrauch? Und könnte Machtkritik womöglich auch jenseits klassischer Erregungsmechanismen geübt werden?

Wir leben heute dank der ach so sozialen Medien in der Empörungsspirale, die anders als die sprichwörtliche »nach oben hin offene Richterskala« tatsächlich nach oben hin offen ist. Es gibt nichts, worüber sich nicht echauffiert werden könnte. Kurt Hiller hat Jahrzehnte vor Aufkommen der gern als »Kurzbotschaftendienst« titulierten Plattform den schönen Begriff »Entrüsteriche« geprägt. Twitter macht uns alle zu Entrüsterichen, zu Wüterichen, - auch und gerade uns »Journalisteriche«, um mal eine Wortschöpfung der Mitbegründerin des Missy-Magazins, Stefanie Lohaus, aufzugreifen. Das ist keine gute Entwicklung. Ich halte sie, mit einem Mode-Wort, für nachgerade toxisch. Sie zerstört das, was immer so bundespräsidial »Debattenkultur« genannt wird. Zudem wird die Verhältnismäßigkeit nicht gewahrt: Der nichtigste Erregungsanlass steht neben einem wirklich wichtigen und ernstzunehmenden Anliegen. Darüber hinaus ist aus dem erträumten Forum der »Gegenöffentlichkeit« längst der Mitteilungskanal der Mächtigen geworden – und zu diesen Mächtigen mit vielen nibelungentreuen Gefolgsleuten zählen auch viele Aktivistinnen und Aktivisten. Das ist nur gerecht, aber ich bezweifle, dass es den Aktivismus jenseits gewisser Verstärker-Effekte wirklich auf seinem Weg voranbringt. Vor geraumer Zeit trendete mal der Hashtag »Mehrheit der Bevölkerung«. Ich habe mir erlaubt, auf meinem Kleinaccount zu twittern: »Die Mehrheit der Bevölkerung ist nicht auf Twitter.« Das sollte allen, die dort unterwegs sind, stets bewusst sein. Man ist da sehr unter sich.         

 

Über die documenta fifteen wurde viel geschrieben. Vielleicht noch nicht genug darüber, inwiefern es Strukturmerkmale des Aktivismus waren, die zum miserablen (Katastrophen)-Management beitrugen. Wie konnte das alles nur passieren!?​

Wer sich Aktivisten ins Haus lädt, darf nicht damit rechnen, dass es ruhig bleibt. Die documenta war offenbar blind für jene dunklen Seiten, die zum Aktivismus ebenso gehören wie seine hellen. Die für das antisemitische Banner verantwortliche Gruppe »Taring Pad« steht laut ihrem Twitter-Profil für »ART ACTIVISM ROCK N ROLL«. Künstler verstehen sich heute mehr denn je als »Artivisten«, insofern war es vom Ansatz her nachvollziehbar, dass man lauter aktivistische Kollektive nach Kassel lud. Dass man aber meinte, Aktivisten oder eben Artivisten stünden per se für das Gute, war von himmelschreiender Naivität. Dass sich jemand als Weltverbesserer versteht, heißt nicht, dass er einer ist. Immerhin: Auf diese Weise sind die Schattenseiten des Aktivismus, um die es mir im Buch immer wieder geht, weithin sichtbar geworden. 

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