01. Juni 2023

Julia Franck und Rainer Wieland übernehmen die Herausgeberschaft der Anderen Bibliothek

Ein Gespräch mit den beiden neuen Herausgeber:innen darüber, was die Buchreihe so besonders macht, und über ihre Pläne

Constanze Neumann: Liebe Julia Franck, lieber Rainer Wieland. DIE ANDERE BIBLIOTHEK blickt auf eine lange Geschichte zurück, sie wurde 1985, vor mehr als 38 Jahren, von Hans Magnus Enzensberger und Franz Greno gegründet, Sie übernehmen ab Juli 2023 die Herausgeberschaft. Sie beide haben besondere Verbindungen zu dieser Reihe. Wie sehen diese aus?

Porträtfoto Julia Franck
Herausgeber:in, Autor:in

Julia Franck, geboren 1970 in Berlin, gehört zu den wichtigsten Stimmen der deutschen Gegenwartsliteratur.

Julia Franck: Die erwachsenen Freund:innen, bei denen ich als Jugendliche aufwuchs, hatten schon die »TransAtlantik« abonniert, und wann immer Enzensberger in den achtziger Jahren etwas publizierte, wurde es in meiner Umgebung gelesen und diskutiert. Ein intellektueller Popstar, wie es nach ihm keinen einzigen mehr gab. Er war die intellektuelle Gallionsfigur dieser Zeit, so unabhängig, leichtfüßig und gewitzt. Als er DIE ANDERE BIBLIOTHEK mit Greno ins Leben rief, wollten viele sofort lesen, was er ausgesucht hatte, mit seinen Büchern den eigenen literarischen und auch intellektuellen Horizont erweitern. Mein Deutschlehrer, ein Intellektueller mit Nähe zur Frankfurter Schule, las mit uns im Abiturjahr die wenige Monate zuvor erschienene »Letzte Welt« von Christoph Ransmayr.

Porträtfoto Rainer Wieland
Herausgeber:in, Autor:in

Rainer Wieland, geboren 1968 in Weißenburg (Bay.), ist Herausgeber, Lektor und Autor und lebt in Berlin. Seit 2023 ist er zusammen mit Julia Franck Herausgeber der Anderen Bibliothek.

Rainer Wieland: Mein erster Titel der Reihe, den mir ich noch als Schüler gekauft habe, war 1985 »Das Wasserzeichen der Poesie«, von Hans Magnus Enzensberger unter dem Pseudonym Andreas Thalmayr zusammengestellt – ein wunderbares Buch, das auf einzigartige Weise Lust darauf machte, sich mit Lyrik zu beschäftigen. Ab 1997 arbeitete ich dann, noch unter Enzensberger und Greno, für mehrere Jahre als Lektor der Reihe. Beide zeichnete eine Leidenschaft für das Büchermachen aus, die im Verlagswesen ihresgleichen suchte. Sie wirkte ansteckend auf alle Beteiligten: Bessere Lehrer konnte man sich als junger Lektor nicht wünschen.

 

CN: DIE ANDERE BIBLIOTHEK hat mehrere Verlagswechsel miterlebt, vom Greno über Eichborn zu den Aufbau Verlagen, unter deren Dach sie seit 2012 firmiert. Was macht die Reihe so außergewöhnlich?

JF: Sie ist inhaltlich ungeheuer vielseitig, von kulturphilosophischen Essays über wieder zu entdeckende Klassiker bis hin zu Gegenwartsliteratur aus allen erdenklichen Sprachen und Kulturen. Läse man nur ein einziges Buch im Monat und hätte dafür DIE ANDERE BIBLIOTHEK abonniert, so wäre man universell belesen. Keines der Bücher ist bloße Unterhaltung oder bürgerliche Erbauungsliteratur. Es sind Bücher, die kritische und wache Leser:innen verlangen, Bücher, die Diskussionen hervorrufen können.

RW: Es ist die besondere Verbindung von Gestaltung und Inhalt, die DIE ANDERE BIBLIOTHEK auszeichnet. Jeden Monat ein neuer Band: Bücher, die nicht überflüssig sind und auf deren Herstellung die höchste Sorgfalt verwandt wird. 464 Bände sind so inzwischen zusammengekommen, und ein Ende ist nicht abzusehen. Ich kenne viele, die sämtliche Bände bei sich zu Hause haben.

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CN: Was haben Sie sich für Ihre Herausgeberschaft vorgenommen? Welche Art Bücher dürfen wir erwarten?

RW: Wir möchten uns auf die Tradition der Reihe besinnen und den Horizont weit aufspannen, über alle Genres, Epochen und Kulturräume hinweg. Wir möchten Bücher machen, die uns bewegen, auch Bücher, über die sich streiten lässt. Bücher, die eine Dringlichkeit haben, Bücher, die zu uns sprechen, auch wenn ihre Autor:innen schon Hunderte Jahre tot sein mögen.

JF: Wir möchten Literaturen aus aller Welt versammeln. Dafür ist unser Netzwerk von Übersetzerinnen und Übersetzer sehr wichtig, die uns auf Autorinnen und Autoren aufmerksam machen, deren Sprachen wir selbst nicht mächtig sind. Japanische Literatur kann ich beispielsweise nur in englischer oder französischer Übersetzung lesen. Und wir möchten mehr weibliche Stimmen zu Gehör bringen, als das bisher der Fall war.

RW: Hans Magnus Enzensberger hat die Feldlinien des Programms einmal sehr schön umrissen: Hand- und Nutzbücher, Lebenszeichen, Märchen und Vielvölker-Erzählungen. Deutsche, europäische und außereuropäische Literaturen. Essays und politische Interventionen. Gläubige und Ungläubige. Wir wollen und können natürlich nicht Gallionsfiguren sein …

JF: … Wir loten im Gespräch miteinander aus, welche Literatur uns ansteckt, und für die es sich zu streiten lohnt.

RW: Bücher, die in keine Schublade passen …

JF: Am meisten freue ich mich auf das besondere und völlig unerwartete Buch. Bücher, die so extravagant und so wenig genrekonform ist, dass sie in anderen Verlagen keinen Platz finden. Sie kommen zu ihrer Zeit. Ihr Thron ist DIE ANDERE BIBLIOTHEK.

Das Interview führte Constanze Neumann

 

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