09. Dez. 2022

In Erinnerung an Hans Magnus Enzensberger – mit einer Rede von Christoph Ransmayr

 »Schwarze Sonne. Im Kernschatten mit Hans Magnus Enzensberger«.

 

Am 11. August des Jahres 1999, einem im Alpenraum wechselnd bewölkten Mittwoch, glitt der Mond in seiner gebundenen Rotation, die den Erdbewohnern immer nur eine Seite ihres Trabanten zeigt, zwischen die Bahnen von Sonne und Erde. Sein Schatten huschte dabei mit einer Geschwindigkeit von fünfzigtausend Stundenkilometern über den Atlantik, verlangsamte sich über dem europäischen Kontinent auf weniger als dreitausend Stundenkilometer und verdunkelte auf einer etwa hundert Kilometer breiten und nahezu vierzehntausend Kilometer langen, von Nova Scotia bis an den Golf von Bengalen reichenden Schattenbahn Land und Wasser in einer Kette von totalen Sonnenfinsternissen.

 

Auch für die steilen, vom Fleckvieh in Stufen getretenen Bergwiesen um jene Almhütte am Rand des oberösterreichischen Höllengebirges, die ich damals in den Sommermonaten als Pächter bewohnte, war eine totale, knapp zweieinhalb Minuten dauernde Finsternis berechnet worden, eine Sensation, wie sie in diesem Landstrich seit einhundertsiebenundfünfzig Jahren nicht mehr zu sehen gewesen war - und von diesem Augusttag an gerechnet, erst in zweiundachtzig Jahren wieder zu sehen sein sollte.

 

Die Wetterprognose verhieß für das Höllengebirge und auch das dahinter aufragende Tote Gebirge schwache Bewölkung mit längeren blauen Abschnitten. Deswegen hatte ich mit Magnus am Telefon vereinbart, gemeinsam mit ihm, seiner Frau Katharina und seiner Tochter Theresia das Himmelsschauspiel von einer gemauerten Plattform neben meiner Hütte zu beobachten, von der aus ich mit meinen Teleskopen auch die scheinbaren Bewegungen am Nachthimmel verfolgte, Kugelsternhaufen, Doppelsterne und aus Abermilliarden von Sonnen bestehende Spiralnebel in Fernen, in die keine Vorstellungskraft reicht.

 

Ich hatte Champagner, Schinken, Käse, Weißbrot, dazu die von Magnus stets bevorzugte achtzigprozentige dunkle Schokolade im Rucksack auf die Hütte geschafft - schließlich war bei erhofftem klaren Himmel durchaus etwas zu feiern, denn keiner von uns - die damals noch kindliche Theresia ausgenommen - hatte auch nur eine theoretische Chance, dieses Schauspiel ein zweites Mal zu erleben, wollte er künftigen Verfinsterungen nicht in andere Erdteile nachreisen.

 

Zwar war auch das bevorstehende Himmelsereignis bloß von der gleichen Unwiederbringlichkeit wie der nächstbeste Augenblick, aber daß darüber der Tag zur Nacht werden und am Mittagshimmel Sterne und Planeten erscheinen sollten, überstieg jeden anderen Zauber dieses Sommertages  bei weitem.

 

Dabei wären Magnus und seine Familie beinahe in die Falle der Umstände geraten: Bahnhöfe und Züge wurden gestürmt, auf den Straßen bildeten sich Kolonnen und Staus, weil jeder an der Finsternis Interessierte einen besseren und noch besseren Beobachtungsposten erreichen wollte. Die Anfahrt von München an den Traunsee, zum Talort meiner Alm, verlangsamte sich dadurch so dramatisch, daß, als dann über den Bergen auch noch Wolkentürme aufrauchten, ein Jahrhundertversäumnis zu befürchten war.

 

Aber endlich, nach einem weitere Zeit und Kräfte verzehrenden Aufstieg zu meiner Alm und nur dreißig Minuten vor der Totalität, sahen wir bei einer Flasche Wein und Salzgebäck, wie die Wolkentürme über Graten und Gipfeln zusammensanken und den Blick auf einen strahlenden Augusthimmel freigaben.

 

Wie immer kannte Magnus die vielen schönen, mit dem Erwartbaren verbundenen Namen längst: Die Corona, die Flammenkrone, die in den Augenblicken der totalen Verfinsterung um eine schwarze Sonne zu sehen sein würde, den Diamantring und die Perlenschnur, aus der das letzte und erste Licht der vom Mond verdeckten Sonne als blendende Kostbarkeit durch die Gräben und Mondschluchten  auf die Erde fallen würde, den fahlen, ins Violette spielenden Finsternishimmel, die Fliegenden Schatten und Lichtsicheln, die über den glatten Boden meiner Plattform tanzen sollten.

 

Aber als die erste Flasche leer war und der Mond still und unaufhaltsam wie die Nacht selbst vor die Sonne glitt und zunächst alles war wie berechnet und vorhergesagt, wurde alles ganz anders:

 

Als wären wir die einzigen Menschen in dieser Minutennacht gewesen und hätten niemanden gehabt außer uns, weder zum Kämpfen, noch zum Lieben noch zur Hilfe, senkte sich eine eisengraue Dunkelheit herab und mit ihr eine bis an den Zenit reichende Verlassenheit, und es erhob sich ein wie vom Ende der Zeit kommender Wind, der Finsterniswind. Und es wurde kalt.

 

Wie vorhergesagt, verstummten die Vögel. Stieglitze, Buchfinken, Kohl- und Blaumeisen, die ich durch die Jahreszeiten in den Obstbäumen der Alm fütterte, saßen stimmlos in den Zweigen. Magnus zeigte auf die aufflammenden, mit Lichtsensoren gekoppelten Promenadenlaternen am Seeufer in der Tiefe. Und ein mit Bewegungsmeldern gegen Raubtiere bewehrter Hühnerstall im Tal lag plötzlich umgeben von einer glitzernden Lichtergirlande im Dunkel. Aber die Sonnenfackeln, die eine Schwarze Sonne umflackerten - bis zu einer Million Kilometer hinaus in den Raum schlagende Flammen - konnten ihre stummen Bewunderer auf einer Plattform nicht wärmen und weder Berge noch Almwiesen erhellen.

 

Sterne. Planeten: Jetzt erschien die Venus im Osten, Merkur im Südwesten, dann der sonnennächste, kaum zwölf Lichtjahre entfernte Doppelstern Procyon im Areal des Kleinen Hundes und die Riesenplaneten Jupiter und Saturn tief im Westen, kurz vor dem Untergang. Magnus kannte alle ihre Namen.

 

Als nach einer Ewigkeit von kaum zweieinhalb Minuten der erste Lichtkristall am westlichen Rand der Schwarzen Sonne explodierte und die Wiederkehr des Tages und der Alltäglichkeit ankündigte, stieß der Neuntöter, der seine Brut in einem uralten Holunderstrauch hinter meiner Almhütte hütete, einen seiner unverwechselbaren Warnrufe aus - die erste Stimme am Ende der Finsternis.

 

Von den Reisen, die ich im Verlauf von Jahrzehnten mit Magnus gemeinsam machen durfte - durch Europa, an den Polarkreis, nach Nord- und Südamerika oder China - war die Reise in den Kernschatten des Mondes die in die größte Ferne. Unauslöschlich aber die Erinnerung, daß wir auf allen Reisen oft und viel gelacht haben - mit einem so gedankenschnellen Virtuosen des Schüttelreimes gab es trotz seiner Fähigkeiten, in die Abgründe der Geschichte nicht nur zu blicken, sondern sie analytisch oder poetisch zur Sprache zu bringen, genug Grund dazu… Doch so still und versunken, gebannt vom Augenblick wie in dieser dunklen Mittagsstunde waren wir nie zuvor gewesen und sollten wir nie wieder werden.

 

Am Ende erwies sich das Lachen als unbesiegbar. Ich erinnere mich an eine gemeinsame Seefahrt durch die Inselwelt des Südchinesischen Meeres und nach Hong Kong, auf der Magnus mich in die unterirdischen Fertigungsstraßen der Schneider von Kowloon begleitete: Ich wollte mir dort einen Anzug, den ersten eigenen Anzug meines Lebens, anmessen und nähen lassen - schließlich schienen Ehrungen und Preise damals in einiger Nähe und entsprechende Kleidung angeraten:

 

Magnus kommentierte meine Auswahl des Stoffes mit keinem Wort: Schwarz geflammte, tiefgrüne Seide. Aber als ich nur einen Nähtag später und wieder mit ihm gemeinsam in den Schneiderkellern stand, den Anzug probierte und gleich anbehalten wollte und mit ihm zurück ans Tageslicht stieg, betrachtete er seinen festlich kostümierten Gefährten und sagte nach jenem kurzen Brummen, dem stets ein schneller Gedanke folgte: In diesem dunklen Grün erinnerst du mich an einen bayerischen Grenzbeamten.

 

Am nächsten Tag - ich hatte den Anzug abgelegt, um ihn nie wieder anzuziehen - saßen wir an der Reling einer Dschunke, die uns zu einem Tempel der Göttin Tin Hau, der Königin des taoistischen Himmels, bringen sollte. Bei einer Schale Tee am Achterdeck kamen wir ins Gespräch mit zwei Mädchen, Stegreifdichterinnen aus Chung Wan, die sich als ehrfürchtige Leserinnen von Magnus erwiesen. Eine von ihnen las gerade seinen Untergang der Titanic, eines der größten poetischen Werke des Zwanzigsten Jahrhunderts, und bat Magnus um eine Signatur in ihrer Mandarin Übersetzung.

 

Und der Dichter brachte auch diese beiden Leserinnen zum Lachen, als er ihnen von einer probeweisen Rückübersetzung des Untergangs der Titanic - aus dem Koreanischen, Japanischen oder Mandarin ins Deutsche - erzählte, die aus dem Untergang der Titanic eine Verbeugung des Riesen werden ließ. Kichernd verbeugten sich die beiden vor Magnus, dem Großen, dem Riesen, der sich auch selber vor so vielem, selbst Kleinem und Kleinstem, respektvoll, immer interessiert und manchmal begeistert verbeugt hatte.

 

Und ich, ein tiefgrün uniformierter Grenzpolizist, stemme nun den Grenzbalken hoch, um dem Riesen meines Lebens den Weg frei zu machen in eine Weite, die nach den Gleichungen und Träumen der Astrophysik und Quantenphysik den kühnsten und rätselhaftesten aller Namen verdient: Unsterblichkeit.

 

Christoph Ransmayr ist Schriftsteller und lebt in Wien. Seine Bücher wurden in mehr als dreißig Sprachen übersetzt. In der Anderen Bibliothek erschien 1988 sein Roman »Die letzte Welt«.

 

 

 


In Erinnerung an Hans Magnus Enzensberger – Nachruf von Christian Döring

Ein ganz in Schwarz gebundenes Buch von ihm berichtet launisch mit lautmalerischem Titel von: Meine Lieblings-Flops. In langer Auflistung, darunter die verlegerischen. Die von ihm 1985 zusammen mit Franz Greno begründete und von ihm so getaufte Andere Bibliothek zählte er nicht dazu. Wohl aber ein Nachfolgeprojekt, als er schon 2004 seine Herausgeberrolle nach mehr als 250 erschienenen Bänden aufkündigte. »Das ist ja peinlich, wenn jemand nicht die Bühne verlassen will. Das ist doch schrecklich.«

Sein Herz hing weiterhin an dieser »unserer« Bibliothek. Als diese nach Stationen in Nördlingen und Frankfurt ihre Berliner Jahre am Moritzplatz begann, da mailte er in Sorge: »Passt es, wenn ich am Mittwoch, dem 24. gegen vier Uhr nachmittags bei Ihnen vorbeikomme? Hoffentlich bis dann! Salve! HME«. Es war vor bald zehn Jahren. Und es war die Inspektion eines neugierigen und aufmerksamen Kenners des Gewerbes. Wer Bücher verlegen will, muss wissen, wie sie gemacht werden. Ganz der Handwerker: Wie läuft der Laden? Wie schrieb er doch einmal: »Subvention macht meistens dumm. There is no free lunch.« Das passt bis in unsere Tage. 

Seitdem wussten wir HME als aufmerksamen Beobachter immer an unserer Seite. Ab und an meldete er sich, bei Erscheinen eines Leopardi etwa, »einer meiner Lieblings-Pechvögel – sehr schön«. 

Er war der schweifende Hausgeist. In jedem Band steht auf der ersten Seite unter unserem Signum des Kometen sein Name: begründet von … – der 455. Band erscheint gerade, ein französischer Autor, wie ihm zu Ehren, dessen Lieblingsjahrhundert das französische achtzehnte war. Er, der Diderot der vergangenen Jahrzehnte. Der wendige und witzige Spötter. Der in allen literarischen und nicht-literarischen Gattungen, auf allen Kontinenten und in allen Sprachen Unterwegs-Seiende, so wie es auch seine Andere Bibliothek wollte. 

Am 11. November 2019, zum 90. Geburtstag von HME, konnten wir schreiben: »Mit jedem Band stehen wir ‚begründet‘ auf Ihren Schultern und versuchen, etwas vom Ansinnen der AB weiter zu transportieren.« 

Nun ist er eingetreten, der »Fall des Falles«, wir verneigen uns vor diesem großen Mann, dem Begründer unserer Anderen Bibliothek. 

Christian Döring, Herausgeber der Anderen Bibliothek seit 2011. 

 

 

 

 

Gemeinsam mit der Anderen Bibliothek erinnern an Hans Magnus Enzensberger:

Die Welt kannte und schätzte Hans Magnus Enzensberger als formidablen Dichter, als erfolgreichen Schriftsteller und als einer der herausragendsten Intellektuellen der Zweiten Deutschen Republik. Den großen Erfolg der Manieren habe auch ich diesem visionären Verleger zu verdanken. Ich kannte diesen Grandseigneur der deutschen Literatur aber auch als einen großen Kenner des Wiener Liedes und der Schlager der zwanziger und dreißiger Jahre.  

Unvergesslich ist mir eine Soiree im Hause einer gemeinsamen Freundin in München, wo wir beide, zum Leidwesen der anderen Gäste, eine Persiflage des Marsches von Johann Schrammel Wien bleibt Wien bis in die Morgenstunden ad perpetuum gesungen haben: »Gehen Sie weiter, gehen Sie weiter, Sie sind ja bloß Gefreiter, ich lass mich nur verführen von Unteroffizieren!«

Möge nun dieser große Kosmopolit da oben geistreiche Symposien mit Homer und Shakespeare führen, mit Goethe und Tucholsky, mit Humboldt und Diderot, aber auch mit Johann Schrammel und Friedrich Hollaender. 

Asfa-Wossen Asserate 

Du kommst zu spät, sagte ich mir, als ich seinen Namen auf dem Klingelbrett las, nicht weit von der Werneckstraße am Englischen Garten, wo Enzensberger früher wohnte: Zu spät für das klärende Gespräch über Schwarzmarkt und Gruppe 47, Lektorenaufstand bei Suhrkamp und Tod der Literatur, Kursbuch, Transatlantik und wie die Stichworte hießen, die ich mir im Kopf zurechtgelegt hatte: Fragen, die er bei bestem Willen nicht mehr beantworten konnte, weil das Leben über sie hinweggegangen war. Und jetzt das: Ein Gründerzeithaus mit knarrenden Stufen, die ich mit klopfendem Herzen hochsteige, dritter Stock ohne Aufzug, kein Problem für den 89-Jährigen, der mir von oben etwas Unverständliches zuruft. Enzensberger wirkt so frisch und vital wie bei unserem letzten Treffen in der Pulvermühle, einem Tagungsort der Gruppe 47, und ist wie stets elegant gekleidet mit rosa Hemd, blauer Hose und hellem Sommerjackett. Von wegen Alterszierlichkeit – er überragt mich um Haupteslänge, als sei er größer geworden, während seine ohnehin kleinteilige Handschrift immer kleiner wird. 

Hans Magnus Enzensberger ist gesprächig wie früher, während seine Frau Katharina Kaffee, Sandkuchen und Eierschnecken serviert, und kichert leise in sich hinein beim Durchblättern eines Essays von Philipp Reemtsma über die Sprachverhunzung der Gegenwart. Ich zitiere das Adjektiv »grottenehrlich«, das ich kürzlich von einem Handwerker hörte, und Enzensberger kontert mit Eric Hobsbawn, der von Haus aus »Obstbaum« hieß, bevor sein Name verballhornt wurde in der Emigration. Enzensbergers Tochter aus erster Ehe sitzt mit am Tisch, eine Norwegerin, und er verblüfft uns mit der Mitteilung, das skandinavische Wort für Prost, skol, sei urverwandt mit englisch skull, weil die Wikinger aus Schädeln besiegter Feinde tranken. 

Fertig gewappnet wie Athene aus dem Haupt des Zeus trat er in die deutsche Literatur. Kein Ritter ohne Furcht und Tadel, aber ein perfekter Intellektueller: Hierzulande macht ihm keiner diesen Rang streitig. Er gehörte zu den klügsten Köpfen, die ich kenne, wobei sich hinter der rhetorischen Brillanz altfränkische Bauernschläue verbarg, passend zu Nürnberg, wo er aufwuchs. Enzensberger war störrisch und stur, und seine Irrtümer waren lehrreicher als die Pseudogewissheiten derjenigen, die nie gesündigt haben und deshalb nicht zur Heiligsprechung taugen, da Tugenden nur dort gedeihen, wo es auch Laster gibt. 

Hans Christoph Buch

 

Während der Arbeit an Der Sinn und die Sinne. Eine Geschichte der Medien rief HME ab und an bei mir an, fast immer, wenn mich mein Mittagsschlaf gefangen hielt. So ging unser spätpubertierender Sohn Felix ans Telefon und vermeldete: »Mein fauler Vater schläft« um sodann ein paar Worte mit HME zu wechseln. Nach meinem Erwachen hatte Felix neuen Respekt vor seinem Vater. Hatte mich bzw. eben ihn doch ein Klassiker von Diderot-Format angerufen, ein Autor, den er in der Schule lesen musste und dennoch spannend, auf- und anregend fand. Wir trauern um den Tod eines klassischen Aufklärers, der noch über die Aufklärung aufgeklärt war und der wusste, was wiederholte Pubertäten sind. 

Jochen Hörisch

»Der Gründer« , womöglich gar »der gute Geist« wann immer in der Anderen Bibliothek von HME gesprochen wurde (und das geschah oft und wird gewiss auch weiter geschehen) blieben die allzu gängigen Vokabeln draußen. Sie hätten das denkbar Falsche assoziiert, Gravitätisches, Sentimentalisches. Gerade deshalb aber schien HME stets präsent - nicht als übermächtiger Schatten oder abrufbarer Sentenzen-Spender, eher schon in einer Art Fluidum, konturiert von nahezu unerschöpflicher Neugierde. Wir alle verdanken ihm unendlich viel, obwohl es mit einem »unendlich« schon wieder so eine Sache ist - oftmals war es ja selbst das vermeintlich randständige Detail, das sich als inspirierend erwies. 

»Glaub nur nicht, dass wir beide darauf gekommen wären«, sagte mir einmal Hans Christoph Buch, als er auf eine Parallel-Formulierung in den Autoren-Angaben unserer Bücher gestoßen war. »Lebt, sofern nicht auf Reisen, als freier Schriftsteller in... Das stammt nämlich ursprünglich von ihm, ein typischer Enzensberger. Präzise und gleichzeitig ein klein wenig kokett, aber wirklich nur ein klein wenig, quasi en passant.« Weshalb es auch sehr verfrüht wäre, von einer »letzten Reise« zu orakeln, die HME nun angetreten habe. Weiß Gott (der menschenfreundlichen Skepsis), wo er sich gerade herumtreibt! 

Marko Martin

In Hans Magnus Enzensbergers Andere Bibliothek konnte man als Autor nicht einfach eintreten, man wurde hineingebeten. Enzensberger hatte seine Augen überall: in historischen Büchern, im Publikationsgeschehen des Auslands, in den Zeitungen. Und in einer der Letzteren, den »Berliner Seiten« der FAZ, war ihm etwas aufgefallen, was es in seiner Anderen Bibliothek noch nicht gegeben hatte: ein Comic, Kat Menschiks Die Nixen von Estland, die dort 1999 als Fortsetzungsreihe liefen. Er rief die Zeichnerin an, und so zogen im Jahr 2002 Comics in die Andere Bibliothek ein. 

Kurz danach bekam ich einen Anruf von Hans Magnus Enzensberger mit der Bitte, ihn in München zu besuchen, um über ein etwaiges weiteres Comicbuch in der Anderen Bibliothek zu sprechen. Und ich möge doch ruhig schon mal ein paar konkrete Vorschläge mitbringen, denn er verstünde ja so gar nichts von Comics. Natürlich war das nicht wahr, wie sich beim Kennenlernen zeigen sollte. Aber damit hatte er mir eine Probe aufgegeben und zugleich die Verbindlichkeit seines Vorschlags klargemacht. 

Ich brachte drei Projekte mit, und er suchte mit der Sicherheit des Augenmenschen das ungewöhnlichste heraus: Moebius. Mir war es recht, ich hatte bei allen dreien insofern gepokert, als ich mit keinem der vorgeschlagenen Künstler zuvor bereits über die Idee eines Buchs gesprochen hatte. So hat mir Enzensberger auch eine der prägendsten Begegnungen beschert, mit Jean Giraud alias Moebius, der just an dem Tag, als ich ihn dann in Paris besuchte, einen familiären Ausnahmezustand erlebte, was die Zusammenarbeit mühsam starten ließ, aber dann umso leichter machte. 

Zurück aus Paris zu Enzensberger. Mit den kopierten Seiten saß ich wieder in der Münchner Wohnung. Dass es nur Kopien waren, bereitete ihm keine Sorge; er hatte ja mit Franz Greno einen Meister der Buchgestaltung an seiner Seite, und der konnte selbst aus Ausschuss noch ein bibliophiles Kleinod machen. Greno, der Lektor Rainer Wieland und der Verleger Wolfgang Ferchl waren nun diejenigen, die Moebius Zeichenwelt als Buch so in Form brachten, dass es der Anderen Bibliothek entsprach, als es 2003 erschien. 

Enzensberger habe ich danach noch einige Male besucht. Nie wieder kam die Rede auf Moebius Zeichenwelt, er blickte nie zurück. Wir haben noch zweimal über einen weiteren Comicband nachgedacht. Aber Hand aufs Herz: Was hätte nach Moebius schon kommen können? Und Enzensberger gab die Andere Bibliothek im Jahr darauf in andere Hände. Zu einem dritten Comicband in der Reihe ist es bis heute nicht gekommen. Denn so ubiquitäre Augen und Ohren wie Hans Magnus Enzensberger hatte eben sonst niemand. Und wird vermutlich auch niemand je wieder haben. 

Andreas Platthaus

Das erste Geschenk des hochverehrten HME war ein Ja auf meine Frage, ob er mir einen Text zur Erstveröffentlichung in der Raamin-Presse geben könne. Damit war die NEUE REIHE etabliert. 1999 erschien Ohne uns. Ein Totengespräch mit acht Graphiken von mir, gedruckt auf transparentes, gebunden in gelbes und schwarzes Japanpapier. Auflage 250 nummerierte und auch von ihm signierte Exemplare. Als das erste Exemplar gebunden war, kam er von München nach Schenefeld, um gemeinsam mit Freunden und Kunden in der Werkstatt zu feiern. Nebenbei signierte er mir meine sämtlichen Enzensberger-Ausgaben aus dem Bücherregal. Ein für alle unvergesslicher Abend. Spät in der Nacht setzte ich ihn wieder am S-Bahnhof in Hamburg-Blankenese ab. 

Das zweite Geschenk war ein Anruf am 28. April 2004. Ich war lange durch die Felder gelaufen, enttäuscht und verzweifelt, weil offenbar niemand das Buch haben wollte, für das ich zwei Jahre recherchiert und fünf Länder bereits hatte. Und plötzlich war da HMEs Stimme am Telefon, so ein Buch habe er ja noch nie gelesen, aber wir müssten aufpassen, dass der Leser keine Kopfschmerzen bekomme. Auf einmal war das Leben wieder schön. Ich folgte seinem Rat, ordnete die unterschiedlichen Erzählstränge neu, und im März 2005 erschien Requiem für Jakob. Im letzten noch von ihm selbst betreuten Programm. 

So wurden zwei Geschenke von HME kleine Stellschrauben meiner Biografie. In Dankbarkeit und Verehrung denke ich an ihn. Und in Erinnerung an sein so einzigartig schelmisches Lächeln. 

Roswitha Quadflieg

Keine Ahnung, was geschehen wäre, wenn nicht an jenem Nachmittag das Telefon geklingelt und eine Stimme gesagt hätte: »hier ist Enzensberger«, um dann irgendetwas von »Leckerbissen« und von »Kühnheit« zu erzählen und davon, dass ich unbedingt noch sehr viel mehr schreiben sollte, »denn die Leute kaufen Bücher wie Schinken, nach Gewicht«. Ansonsten wolle er den Roman, der da erst zu zwei Dritteln fertig und dessen Manuskript ihm in die Hände gefallen war, unbedingt in seiner Anderen Bibliothek veröffentlichen. Ich glaube, ich habe damals kein einziges vollständiges Wort herausgebracht, höchstens ein wenig gestottert, auf jeden Fall war ich, obwohl schon Anfang 40, vor lauter Ehrfurcht augenblicklich zum Schulmädchen regrediert. Noch viel wichtiger als die Tatsache, dass Enzensberger, diesen Roman, Versuch über das wüste Leben, schließlich herausgegeben hat und die Andere Bibliothek dadurch zu »meinem« Verlag mit später noch weiteren Büchern wurde, ist allerdings, dass ich seither an jedem Tag, an dem ich am Schreibtisch sitze, versuche, tatsächlich jene Kühnheit zu beweisen, von der Enzensberger damals sprach. Und noch eines: Über jenen Versuch über das wüste Leben schrieb er damals, es handele sich um ein »Pandämonium der großen Verunsicherung«. Man glaube mir das jetzt oder nicht: Genau vor zwei Wochen legte ich auf meiner Festplatte einen neuen Ordner an mit dem Namen »Pandämonium«, denn dies und die »große Verunsicherung“, die inzwischen insgesamt noch größer ist als damals, soll nun der Titel meines neuen Projekts sein.

Gabriele Riedle 

Hans Magnus Enzensberger war auch ein Radiomann. 1957 schrieb er für den hr sein erstes Feature, eine kritische Analyse der Kino-Wochenschauen. Er selbst sprach den Rahmentext. Danach hat er immer wieder für den Rundfunk gearbeitet, Hörspiele geschrieben, Erzählungen und Gedichte gelesen, Interviews gegeben, sich an Diskussionen beteiligt. Besonders stolz waren und sind wir auf die von Heiner Boehncke angeregte Hörbuch-Reihe »Die Andere Bibliothek im Ohr«, für die Enzensberger seine eigenen AB-Bücher bearbeitete und damit akustische Originalausgaben schuf. Bei seinem Zahlenteufel hat er das Wunder vollbracht, ein optisch geprägtes (Kinder-)Buch in ein fulminantes Hörspiel zu verwandeln. Bei dem er wieder selbst mitsprach. Als wir 2014 für einen Interviewband zur Anderen Bibliothek in München bei ihm waren, verriet er uns, wie gern er wieder Hörspiele schreiben würde. Und das hat er dann auch getan. Wir konnten gleich mehrere Stücke mit ihm für unsere Kulturwelle produzieren und als Hörbücher herausbringen. 

Hans Magnus Enzensberger war nicht nur ein Glücksfall für die deutsche Literatur, er war auch ein Glücksfall für die kulturelle Bedeutung des Radios. 

Hans Sarkowicz

Gerne schlug der alte Hans Magnus Enzensberger (den jungen kannte ich nicht in seiner leibhaftigen Gestalt) die Oberschenkel übereinander, worauf dann Unterschenkel und Füße rechtsläufig ineinander gedreht wurden. Eineinhalb Windungen kamen so zustande. Das leichte Schuhwerk war offenbar eigens zu dem Zweck angeschafft worden, dem Winden möglichst wenig Widerstand entgegenzusetzen. Den Oberkörper drehte er leicht nach links, die Ellbogen ruhten auf den Armlehnen – und dann fuhr er mit Unterarmen und Händen immer wieder nach oben, gleichzeitig mit beiden, und zum Aufblitzen der Augen fügte sich, blitzschnell, das »Huch!« der Hände, ein Ausdruck der Überraschung, mit dem Hans Magnus Enzensberger heitere Neugier und spielerische Abwehr zugleich gestalten konnte. Und so hatte, selbst wenn er nur schlicht dasaß auf seinem klassizistischen Stuhl, der ganze Auftritt des Dichters etwas Gymnastisches. Gewiss soll man Autor und Werk stets auseinanderhalten. Aber es fiel schwer, in der ganzen Beweglichkeit des Menschen nicht auch das Werk wiederzuerkennen. 

Thomas Steinfeld

Es war in Krakau. Meine erste Auslandsreise als Romancier. Ich ein Vertreter der Jugend. Der Mann in der ersten Reihe ein Vertreter der Klassik, schon zu Lebzeiten. Ich hatte seine Gedichte in der Schule gelesen. Nun hörte er mir aufmerksam zu. Ich quälte mich beim Vorlesen, ob mein Text seinen Ansprüchen genügte. Wir spazierten durch Kraków und unterhielten uns. Er war überraschend neugierig für einen Klassiker. Ich erzählte ihm von meiner Absicht, nach Bombay zu ziehen, um für meinen nächsten Roman zu recherchieren. 19. Jahrhundert. Richard Francis Burton. Indien, Arabien, Ostafrika. Er nickte unaufgeregt, so als sei dieses Projekt eine Selbstverständlichkeit. Ob der Roman durch und durch historisch sein werde, fragte er. Ich bejahte. Also würde ich viel Material ansammeln, das nicht Eingang in den Roman finden würde. Ich bejahte. Haben Sie sich überlegt, Ilija – wir siezten uns mit Vornamen –, was Sie mit all diesen Erlebnissen anstellen werden? Ich verneinte. Wie wäre es mit einem Reportageband? Regte er an. Zwei Wochen und ein Telefonat später war die Idee für Nomade auf vier Kontinenten geboren, bald flatterte ein Verlagsvertrag ins Haus (da war ich schon in Bombay) und einige Jahre danach erschien dieses eigenwillige Werk als einer der letzten Bände der Anderen Bibliothek unter der Ägide von Hans Magnus Enzensberger und Franz Greno. Ein Füllhorn der Textsorten und ein Blumenstrauß an typographischer Extravaganz. Als Idee entstanden aus einem Gespräch zwischen einem Anfänger und einem Klassiker an einem Nachmittag in Krakau. So war Hans Magnus, dialogisch (wie einer seiner Vorbilder: Denis Diderot), wissbegierig und auf Zehenspitzen durch die Welt, dem Staunen nie entwachsen. 

Ilija Trojanow

Er war immer der ideale Kandidat für den Nobelpreis für Literatur. Aber dem war er gleichzeitig schon voraus. Er war poetischer, sachkundiger, neugieriger, kritischer und ahnungsvoller als der Zeitgeist. Für die brisanten Bruchlinien in einer gefährdeten Welt hatte er ein untrügliches Gespür. Dabei war er nie auf Sendung, sondern immer auf Empfang. 

Mit ihm durch die Welt zu reisen, war reines Glück. Alexander von Humboldt war sein Vorbild für das Erkunden der Wirklichkeit mit allen Sinnen. An jedem Ort waren der Marktplatz und der Bahnhof die ersten Stationen seiner Recherche: Wer kommt und geht? Wer bestimmt den Alltag? Ruhm bedeutete ihm nichts, Ideologien machten ihn unruhig und unwirsch. Er war ehrlich verwundert, als Pekinger Studenten seine Gedichte auswendig in gutem Deutsch rezitierten. Er folgte der alten Seidenstraße in Xinjiang bis zum großen Markt der vielen Völker in Kaschgar – viele Jahre, bevor das ein Thema der Weltpolitik wurde. In Algerien, Tunesien, Marokko spürte er die kommenden arabischen Revolutionen ebenso voraus wie ihr Scheitern. Er ahnte das Schicksal Gorbatschows, des »Helden des Rückzugs«, als alle noch naive Träume fütterten. »Ach, Europa!« dieser Stoßseufzer enthielt eine unerbittliche Analyse eines trügerischen Selbstbildes der europäischen Eliten. Deutschland war ihm zu klein und zu bleilastig.  Er war der federleichteste unter den großen europäischen Schriftstellern. 

Antje Vollmer

In der Villa Hajo Rüter in Eltville im Rheingau traten auch Autorinnen und Autoren auf, die man sonst selten zu hören und sehen bekam. Ein Radio-Redakteur bei der Kulturwelle des Hessischen Rundfunks hatte gerade dort zu arbeiten begonnen, als Hans Magnus Enzensberger als Gast angekündigt wurde. Die Idee, das Wasserzeichen der Poesie zu »vertonen« lag in der Luft, erlebte das Medium Hörbuch doch eine grandiose Konjunktur. Der Redakteur hatte im Rundfunk-Archiv unter Enzensberger Dutzende Einträge gefunden. Also lauerte er dem prominenten Gast nach seiner Lesung auf und schlug ihm vor, etliche Bände der Anderen Bibliothek als Hörstücke zu bearbeiten. „Ja, warum denn nicht, ich bin doch eigentlich ein Radio-Mann“ war seine Antwort. Das »Wasserzeichen« bot sich mit seinem poetischen Stimmenreichtum als Radio- bzw. Hörbuchproduktion an. So entstand als kleine Schwester der Anderen Bibliothek die von HME herausgegebene »Andere Bibliothek im Ohr« und Das Wasserzeichen der Poesie oder die Kunst und das Vergnügen, Gedichte zu hören“ wurde zum »Hörbuch des Jahres 2000« gewählt. Die Gedichte las Gert Heidenreich, die Einführungen Hans Magnus Enzensberger. Der Redakteur konnte sein Glück kaum fassen. 

Heiner Boehncke

Als, irgendwann im November des Jahres 1996, der Anruf aus München kam, man suche einen Lektor für ein besonderes Projekt in der Anderen Bibliothek – ein Finnegans Wake des 16. Jahrhunderts aus der Feder eines Autors namens Johann Fischart –, hätte ich mir nicht vorstellen können, was sich daraus entwickelte. Mit dem Eintritt in den Kosmos Hans Magnus Enzensbergers erschienen die zurückliegenden Jahre an der Universität mit einem Mal grau und anämischals habe man nur auf den Moment gewartet, den mit allerlei Theorien vollgestopften Kopf zu befreien und ihm die Türen zu öffnen für eine Welt der Literatur, die keine Grenzen kennt und keine Schubladen.  

Für den Beruf des Lektors gibt es keine Ausbildung, es gilt die Devise Learning by Doing. Dabei konnte man sich keinen besseren Lehrer wünschen als Hans Magnus Enzensberger. Dies betraf nicht nur seinen intellektuellen Horizont, seine Entdeckerfreude, seine Versiertheit mit Texten aller Art (bis hin zum Verfassen von Klappentexten), seine Kunst des Kuratierens und Arrangierens, sondern auch sein Gespür im Umgang mit Autorinnen und Autoren. »Ohne Lust geht es nicht.« Das Credo Enzensbergers übertrug sich auf alle, die am Zustandekommen der Bücher der Anderen Bibliothek beteiligt waren. Seine Neugier war ansteckend, und das Zutrauen, das er einem vermittelte, wirkte beflügelnd. Wir werden ihn schmerzlich vermissen: den Entdecker und Freibeuter, den Anstifter und Ideenschmuggler, den Zauberer und unsentimentalen Poeten. 

Rainer Wieland arbeitete von 1997 bis 2007 als Lektor der Anderen Bibliothek und gab zusammen mit Anette Selg den Folioband Diderots Enzyklopädie heraus. Ab Juli 2022 übernimmt er gemeinsam mit Julia Franck die Herausgeberschaft der Anderen Bibliothek.