18. Juli 2023

Der rastlos wilde Eigensinn

Vom Kampf und der Sehnsucht nach Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit. Die Wiederentdeckung einer der großen deutsch-jüdischen Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts: Klara Blum und ihr Roman »Der Hirte und die Weberin«.
Julia Franck

Der rastlos wilde Eigensinn

Aus dem Nachwort von Julia Franck

 

Mitten im Krieg ist keine Zeit für Literatur. Nach Kriegen und vor ihnen jedoch, in Zeiten der Umbrüche, Ungewissheiten und Unsicherheiten, der Konstituierung neuer und alter Werte, entsteht das Bedürfnis nach dem Erzählen und Lesen einer Geschichte. Wie war es und wie könnte es einst gewesen sein? Wo die Wahrheit einer Geschichte zwischen Inspiration und Willkür, eigenem Erleben und dem anderer siedelt, erleben wir in Literatur. Langt eine Geschichte über die Erfahrung des Einzelnen hinaus ins Universelle, können wir uns darin wiederfinden. »Mögest Du in interessanten Zeiten leben« ist ein altes chinesisches Sprichwort, dessen höfliche Formulierung eher Fluch als Segen in sich birgt.

So wichtig politische Literatur im Augenblick ihres Entstehens scheint, ihre Halbwertszeit ist kurz. Die Schriftstellerin als Aufklärerin und Provokateurin, als Mahnerin und moralische Instanz, ihre unmittelbare politische Relevanz flackert auf und wirkt im nächsten Augenblick leicht verrenkt oder verstaubt.

Und doch erlaubt manche Literatur nach Jahrzehnten den späteren Generationen eine Zeitreise der ganz besonderen Art. Schon in der Antike wurden unliebsame Schriftsteller wie Xenophon und Ovid in Verbannung und Exil geschickt. Die Verbrennung von Büchern, wie etwa im Nationalsozialismus, hinterließ eine Schneise der Vernichtung. Manche Autoren fanden kaum ihre Stimme wieder, und die deutschen Leser brauchten nach dem Krieg lange, ehe sie diese oder jenen wieder lesen wollten, wenn überhaupt. Macht und Gewalt der nationalsozialistischen Verrottung wirkten lang, der Antisemitismus war nicht verschwunden. Bis heute ist die Verfolgung und Verhaftung vermeintlich gefährlicher Schriftsteller und Schriftstellerinnen in diktatorischen Staaten Instrument der Einschüchterung. Mit der Zerstörung und Beseitigung der jeweiligen Person und ihres Werkes wird ein Exempel statuiert.

Der Hirte und die Weberin
Empfehlung
Band 463 (2023)
48,00 €

Klara Blum ist die große Unbekannte und Außenseiterin der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Essayistin und Dichterin, Übersetzerin und Schriftstellerin von Romanen – ihre literarische Gestaltung lässt sich vom politischen Furor kaum trennen. Ihr Roman »Der Hirte und die Weberin« ist ein überaus spannendes Zeitdokument, ein bewegendes Lebenszeichen, und dabei ein Stück Literatur mit allen denkbaren Schwierigkeiten.

Die europäische Jüdin Klara Blum im 20. Jahrhundert rettete dank Migration und Dichtung in der Diaspora nicht nur ihr Leben, sondern erhob ihr Wort gegen die Unterdrückung anderer, engagierte sich politisch, literarisch und journalistisch über Jahrzehnte und erstarrte in der zweiten Lebenshälfte zunehmend in der unterwegs gewonnenen Haltung. Darin erscheint die Solitärin aus der heutigen Entfernung sonderbar frenetisch, gab sie sich doch wider alle Anzeichen blind gegenüber Varianten des Weißen Terrors und des blutigen Unrechts in ihrer unmittelbaren Nähe. Und doch macht gerade Blums blindwütige Liebe und Politisierung ihren Roman »Der Hirte und die Weberin« zum aufregenden und streitbaren Zeugnis einer Lebensgeschichte im 20. Jahrhundert.

Hanna Bilkes heißt Blums Heldin, und die osteuropäische Jüdin trägt unverkennbar Züge und Merkmale ihrer Schöpferin. Ihre Lebensstationen und Erfahrungen spiegeln Klara Blums eigene Geschichte wider, die eines Überlebens und einer tiefen Liebe, die eines politischen und romantischen Erwachens.

Hannas Alter Ego im Roman wiederum ist Zhinü (Dshe-Nü), die Weberin aus der alten chinesischen Legende »Qixi«, vom Kuhhirten und der Weberin. Als Sternbilder stehen der Kuhhirte Niulang (Nju-Lang) und die Weberin Zhinü am Himmel, getrennt vom großen Strom der Milchstraße. Jeden Sommer wird am siebten Tag des siebten Monats des chinesischen Kalenders in China das Fest der Liebenden gefeiert, Qixi. Niulang und Zhinü dürfen einander für eine einzelne Liebesnacht sehen, und Elstern spannen ihnen mit ihren Flügeln eine Brücke über die Milchstraße.

Porträtfoto Klara Blum
Autor:in

Klara Blum wurde 1904 in Czernowitz, Bukowina, geboren und wuchs in Wien auf. Sie studierte Psychologie und arbeitete als Journalistin.

Klara Blum stammt aus Czernowitz in der Bukowina, das seinerzeit zu Österreich-Ungarn, wenige Jahre später zu Rumänien gehörte und heute im Süden der Ukraine liegt. Wenn diese jüdisch-europäische Kosmopolitin, die schließlich auf beharrliches Verlangen 1954 Chinesin werden sollte, einer größeren Öffentlichkeit unbekannt blieb, könnte es daran liegen, dass sich ihre eigenwillige Position für keine Fraktion und keinen gesellschaftlichen Diskurs als Gallionsfigur anbietet. Weder eine Gruppe noch ein Verband, eine Minderheit oder eine Partei, kaum eine Kultur, Nation oder Religionsgemeinschaft kann sich mit dieser kampflustigen Schriftstellerin so ganz identifizieren. Staat konnte und kann man mit ihr nicht machen.

Wie in Zeiten politischer Bedrängnis und Barbarei üblich, in denen Einzelne aufgrund ihrer sozialen, ethnischen und geschlechtlichen Merkmale Ausgrenzung erfahren, ist Blums Literatur Widerstand und Selbstbehauptung. Sie reklamiert die eigene Geschichte, die ungewöhnlich emanzipierte Existenz, das eigene Überleben und eine Anerkennung als Dichterin. Freilich ist auch ihre Romanheldin Dichterin, Frau des Wortes, Weberin. Sie fordert Gerechtigkeit für unterdrückte und verfolgte Menschen, ja Völker. Als Hanna Bilkes in Moskau dem Chinesen Niulang begegnet, sind beide schon über dreißig und leben bescheiden, teils von Hilfsorganisationen alimentiert, eher isoliert im Exil.

Es wirkt, als verliebe Hanna Bilkes sich zum ersten Mal in ihrem Leben, als treffe sie zum ersten Mal einen Menschen auf Augenhöhe, einen weitgereisten und international belesenen Feingeist, mit dem sie über Literatur philosophiert und über das Theater, über Politik und die ganz private Herkunft sprechen kann, über alles – und selbst in der körperlichen Liebe zeigt er sich geduldig, er drängt sie nicht und respektiert ihr Zögern. Schließlich gibt es weder Chuppa noch Standesamt. Nicht einmal die Adresse des Geliebten darf sie kennen. Unter einem Dach leben wird sie mit ihrem Niulang nie, so wenig wie Klara Blum mit ihrem Geliebten je zusammenleben wird. Es ist weder eine Ehe im religiösen noch in irgendeinem staatlichen Sinn, allein die geistige, romantische und sexuelle Hingabe scheint das junge Glück von Mann und Frau zu besiegeln. Sie empfinden eine kosmische Zugehörigkeit und Ergänzung, eine Vollkommenheit, für die Hanna das chinesische Yin & Yang-Prinzip zitiert.

Reklamiert sie die Liebe zum Fremden, dem Chinesen Niulang, dem Hanna in Moskau begegnet, so tut sie dies, ohne das Eigene zu verraten. Die Gefahr der kulturellen Aneignung kennt Hanna Bilkes so wenig wie Klara Blum; nur ihre selbstverständliche Urteilsfreude, die politische Entschiedenheit und mancher Hass, den sie frei bekundet, verstört aus der rundumsichtigen Gegenwart heraus.

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