29. Nov. 2022

Literatur für Hellhörige

Alphonse_Daudet_Jack_Cover
Geschichten, Protagonist:innen und ihre Vorbilder: Über die realen Hintergründe der Figuren in Alphonse Daudets »Jack«.

Aus dem Nachwort von Alain Claude Sulzer: »Literatur für Hellhörige«

Nur selten sind die Voraussetzungen eines Romans so ausführlich dokumentiert worden wie im Fall von Alphonse Daudets »Jack«, dem umfangreichsten Werk seines großen Oeuvres, das Romane, Novellen, Theaterstücke und autobiographische Schriften umfasst.

Dass die Entstehungsgeschichte eines Romans vom Autor selbst, also nicht von Freunden oder Biographen, bezeugt wurde, macht sie besonders wertvoll, zumal Daudet nicht zu autobiographischen Mystifikationen neigte.

Erst nachdem man nach dem Roman die Entstehungsgeschichte liest, kann man ermessen, wie nah Daudet der Wirklichkeit kam, die zu »erfinden« er sich verbot, solange sie für jeden, der nicht blind oder empfindungslos war, an jeder Straßenecke und in jedem Winkel Frankreichs deutlich sichtbar war. Ähnlich war er schon bei seinem ersten Roman »Le petit chose« (»Der kleine Dingsda«) verfahren, als er ungeschönt seine eigene Schulzeit als Kind von Eltern verarbeitete, die im Verlauf seiner Kindheit und Jugend verarmt waren.

 

Alphonse Daudet, der trotz permanenten Schulschwänzens vor allem beim Aufsatzschreiben und in den fremdsprachlichen Fächern auffiel, kannte die Armut. Sie verhinderte, dass er das Abitur absolvierte, ermöglichte es ihm aber, die Orte kennenzulernen, wo die Armen lebten und wo er sich gern aufhielt. Was materielles Elend für ein Kind bedeutete, brauchte er nicht zu recherchieren; wie Armut sich auf den Alltag auswirkte, hatte er am eigenen Leib erfahren; wie sie das Leben der Erwachsenen beeinflusste, hatte er an seinen eigenen Eltern beobachten können. Daudet wurde weder ein Dichter der Salons noch der Chronist der eleganten Gesellschaft. Obwohl er die längste Zeit seines Lebens in Paris lebte, blieb er stets auch ein Mann aus der Provinz, der seine Herkunft nicht verleugnete.

Jack
Empfehlung
Band 455 (2022)
Originalausgabe
44,00 €

Ohne reales Vorbild wäre »Jack« nicht geschrieben worden, daran ließ Daudet keinen Zweifel. Der achtundzwanzigjährige Autor, der eben damit begonnen hatte, sich in Paris, wo er seit 1857 lebte, einen Namen als Schriftsteller zu machen, hatte Verständnis für die aussichtslose Situation, in der sich »Jack« befand.

Das Vorbild hieß Raoul D. Den Klarnamen Dubief schrieb Daudet nicht aus. Alphonse lernte ihn Ende 1868 kennen, als der schwerkranke achtzehnjährige Junge sich zur Erholung in der Nähe von Champrosay aufhielt, wo Daudet mit seiner Frau »zwischen der Seine und dem Wald von Sénart ein Häuschen bewohnte, in dem zwei Zimmer frei waren«. Paris war von hier aus, wo die Daudets später ein stattliches Herrenhaus erwerben und die Sommer verbringen würden, mit der Bahn in dreißig Minuten bequem zu erreichen.

Raoul war zwischen achtzehn und zwanzig Jahre alt, als Nadar, der bekannteste und produktivste Fotograf seiner Zeit, den »Jack meines Buches« ablichtete. Dieses Porträt hatte der Autor vor sich, als er die Entstehungsgeschichte festhielt. Darauf sah er ein »… zartes, kränkliches Gesicht mit unentschiedenen Gesichtszügen und verspielten, klaren Kinderaugen«. So hat er ihn Ende 1868 besucht, »fröstelnd, mitkrummem Rücken, die Arme über der dünnen Haut seiner schmächtigen Brust gekreuzt, aus der sein Husten wie eine Totenglocke klang.«

Mochte sich Raouls Gesundheitszustand an seinem ländlichen Rückzugsort zwar etwas verbessern, vollständige Genesung fand er in der Gegend südlich von Paris nicht. Er lebte, laut Daudet, wie Robinson in einer einsam gelegenen, großen Unterkunft und ernährte sich von einem Sack Kartoffeln und von dem Kredit, den ihm der Bäcker in Soisy gewährte. Wenn er seine über alles geliebte Mutter besuchen wollte, die nicht einmal vorzutäuschen versuchte, seine Gefühle zu erwidern, musste er sich zu Fuß nach Paris aufmachen, da er sich die Zugfahrt nicht leisten konnte. Weder unterstützte sie ihn finanziell noch kam sie je auf den Gedanken, ihn zu besuchen – und ihr Liebhaber tat alles, um Raoul, der ihn störte, von ihr fernzuhalten.

Sein Vater, dessen Abwesenheit ihm weniger zusetzte als die Missachtung seiner Mutter, war unbekannt. Wenn die Mutter ihn erwähnte, behauptete sie einmal, es handle sich um den Marquis de P., dessen Name im Kaiserreich bekannt gewesen sei, ein anderes Mal, sein Vater sei höherer Artillerieoffizier gewesen. Es war unmöglich herauszufinden, wann sie gelogen, wann sie die Wahrheit gesagt hatte, da Lügen ihr so in Fleisch und Blut übergegangen war, dass sie Wunsch und Realität nicht mehr voneinander unterscheiden konnte oder wollte. »In meinem Buch«, schreibt Daudet, »hat dieses bezeichnende Detail manche Leser schockiert; obwohl es direkt dem Leben nachgebildet war, klang es wie die Übertreibung des Psychologen, der es eben gerade nicht erfunden hätte.«

Unfähig, auch nur die geringste Kritik an ihr zu üben, verzieh Raoul seiner Mutter natürlich auch die Flunkereien über seinen anonymen Vater. Im Roman wird auf den ersten Seiten ein englischer Patenonkel namens Lord Peambock ins Feld geführt, mit dem sich nicht nur der für einen Franzosen einigermaßen extravagante Name Jack (»mit einem CK!«) erklären, sondern auch eine mögliche Vaterschaft suggerieren lässt. Seinem Vorbild hatte man allerdings den in Frankreich geläufigen Namen Raoul gegeben.

»Was wollen Sie, sie ist halt so«, äußerte Raoul gegenüber Daudet, der dessen Mutter sowohl in seinem Aufsatz über die Entstehungsgeschichte von »Jack« als auch im Roman, in dem sie sich den Namen Ida de Barancy gab, selbst wiederholt als »Verrückte« (»folle«) bezeichnete. Das war kein klinischer Befund, sondern eher der Versuch, jene unselige – und für Raoul/Jack tödliche – Mischung aus Grausamkeit, Verstiegenheit, Beschränktheit, fehlendem Einfühlungsvermögen und Unverstand, die ihre Handlungen bestimmte, auf einen einfachen Nenner zu bringen.

Dass diese Frau nicht nur auf dem Papier existierte, machte die Sache nicht einfacher, denn der Schriftsteller musste einen Weg finden, seine Darstellung nicht auf die Karikatur einer sentimentalen, realitätsblinden Egoistin zu beschränken. Da er ihr persönlich nie begegnet war, konnte er sich lediglich auf die geschönten Hinweise des sie abgöttisch liebenden Sohnes stützen. Das Bild, das sich Daudet von ihr machte, setzte sich also aus dem zusammen, was der Sohn verschwieg, weil er der Wahrheit nicht ins Gesicht blicken wollte, und einer eigenen, kaum verhohlenen Verachtung. Über die Vergangenheit der Romanfigur Ida wird der Leser im Unklaren gelassen. Woher sie kommt, bleibt nebelhaft, auch wenn einmal zwei Kaufleute glauben, in ihr eine ehemalige Handschuhmacherin wiedererkannt zu haben. Obwohl sie sich umgehend für diese Verwechslung entschuldigen, ist das der einzige ernstzunehmende Hinweis auf ihr Vorleben. Sicher ist, dass ihr Adelstitel reine Erfindung ist und sie aus der Provinz stammt; die Provinzlerin zu verkennen ist dem Pariser bekanntlich nicht gegeben. Selbst ihre Kammerzofe bezeichnet sie gegenüber Dritten despektierlich als »Provinzkokotte«. Doch damit sind wir schon mitten im Roman.

Auch im Gespräch