Von Vernichtung, Verlust und Erinnerung: Das preisgekrönte Vermächtnis der Anna Langfus

Das ewig Gegenwärtige
Was Anna Langfus uns heute zu sagen hat
Nachwort von Patricia Klobusiczky
Während wir die letzten Überlebenden der Schoah verlieren, wird in Deutschland laut darüber nachgedacht, wie wir die Erinnerung wachhalten können. Vielleicht hilft es, wenn wir uns vor Augen führen, dass von Anfang an um diese Erinnerung gerungen werden musste, individuell wie gesellschaftlich, juristisch wie politisch und erst recht künstlerisch, und dass Überlieferung, die historische und die literarische, von jeder Generation neu zu erschließen ist.
Liest man Gepäck aus Sand, Anna Langfus' zweiten Roman, 1962 in Frankreich erschienen, dessen Handlung an seinen Vorgänger Salz und Schwefel (Erstausgabe 1960) anschließt und Ende der 1940er Jahre spielt, wird sehr schnell deutlich, dass das Vergessen schon einsetzte, als der Krieg kaum vorbei war. Maria, die Erzählerin, deren wahren Vornamen wir genauso wenig erfahren wie den Nachnamen, ist mutterseelenallein, zum einem, weil fast alle ihre Angehörigen in Polen von den Nazis vernichtet wurden, zum anderen, weil sie im Pariser Exil niemanden findet, dem sie sich mitteilen könnte. Sie ist nur von Menschen umgeben, die das Geschehen entweder verdrängen – wie die Familie ihres noch rechtzeitig geflohenen Onkels, in der allein das handbemalte, von den Besatzern konfiszierte Porzellanservice beweint wird – oder die nicht die geringste Empathie aufbringen. Und so überlagern sich zwei Welten in diesem Roman, den die Autorin mit dem illusorischen Vorsatz, ihre »Kriegsbesessenheit« abzuschütteln, ursprünglich als leichthändig erzählte Sommerromanze mit Anklängen an Françoise Sagan konzipiert hatte: einerseits die Welt der vergleichsweise sorglosen Zeitgenossen im unversehrt schönen Paris oder an der strahlend sonnigen Côte d'Azur, andererseits die in Düsternis versinkende von Maria. Hier bleibt eine zutiefst traumatische Vergangenheit immer präsent, meist unterschwellig, doch durchbricht sie regelmäßig die realistisch gehaltene Textoberfläche und tritt in geradezu expressionistisch-surrealen Visionen des Besatzungsterrors zutage – nicht umsonst stammen Titel und Motto von Gepäck aus Sand aus einem Gedicht von André Breton.
Die Unmittelbarkeit, mit der hier erzählt wird, fast durchgehend im Präsens - auch so manifestiert sich das ewig Gegenwärtige -, ist frappierend. Sie lässt darauf schließen, dass Anna Langfus eigene Erlebnisse verarbeitet, auch wenn sie als Schriftstellerin ganz bewusst Abstand schaffte, zeitlich – ihre Romane entstanden rund fünfzehn Jahre nach dem Krieg -, und auch durch die Wahl der Fremdsprache Französisch. Es ging ihr nach eigenem Bekunden nicht um eine Wiedergabe von Fakten, so sehr diese auch in ihre Werke Eingang fanden, sondern darum, für das Unsagbare Bilder zu schöpfen, die über die eigene Erfahrung hinausweisen. Sie wollte mit ihrem Schreiben eine kollektive Tragödie zum Ausdruck bringen, die spezifisch »jüdische Tragödie«, wie sie in einem Vortrag bekannte, und nahm diese selbst gestellte Aufgabe sehr ernst.
Tatsächlich weist ihre Biographie etliche Parallelen zu Marias Hintergrund auf, der im Roman immer wieder durchblitzt, ohne explizit benannt zu werden. Es heißt, Anna Langfus habe niemals über ihre ermordeten Angehörigen gesprochen, aber sie hatte offensichtlich andere Wege, ihrer unaufhörlich zu gedenken: Sowohl ihr einziges Kind als auch ihre wiederkehrende Romanprotagonistin tragen beide den Namen ihrer Mutter.
Auch hatte sie es stets abgelehnt, direkt Zeugnis abzulegen, also ihre Erinnerungen pur niederzuschreiben, aus Furcht, von ihren Gefühlen mitgerissen zu werden. Das literarische Erzählen schien ihr ein probates Mittel, sich vom eigenen Erleben zu lösen und das große Ganze in den Blick zu nehmen, und so wandte sie sich dem Roman zu, um das »Unfassbare zu fassen«. 1958 und 1959 arbeitete sie an ihrem Debütroman Salz und Schwefel, in dem Maria das erste Mal als Erzählerin auftritt und dem Anna Langfus' Erfahrungen im Polen der Nazi-Zeit zugrunde liegen, wobei sie nicht eins zu eins übernommen, sondern stark verdichtet, verfremdet und verbildlicht wurden.

Salz und Schwefel erschien im Juni 1960 bei Gallimard. Bald rückte die Außenseiterin in den Mittelpunkt der Pariser Kulturszene, und sie äußerte sich zunehmend auch in politischen Debatten zur Frage der Schoah, zum Zionismus und zum Komplex der Erinnerung, wobei einer ihrer Schlüsselsätze lautete: »Der Schrecken spricht seine eigene Sprache und die menschliche Stimme wird immer zu schwach sein, um sie wiederzugeben.« Man würde ihr gern widersprechen: So sehr straft Anna Langfus' kraftvolles Werk diese Aussage Lügen.
Kurz nach der Veröffentlichung ihres Debüts nahm sie den nächsten Roman in Angriff, Gepäck aus Sand, und wollte eigentlich Thema und Tonlage wechseln, aber das erwies sich als unmöglich. Unter ihrer Feder erstand wieder Maria: von Polen nach Paris geflohen, allein und doch mit allen, die sie verloren hatte, im Seelengepäck. Diesmal ging Anna Langfus das Schreiben sehr schnell von der Hand, der Roman erschien im Sommer 1962 und erhielt umgehend gute Kritiken, außerdem fand er großen Anklang bei der Leserschaft – und seine Autorin wurde im Herbst mit dem bedeutenden Prix Goncourt ausgezeichnet. Ein bemerkenswerter Erfolg, insbesondere für eine Frau (sie war erst die vierte, der dieser traditionsreiche Preis zugesprochen wurde, nach Simone de Beauvoir im Jahr 1954) und für eine Sprachwechslerin. In der Folge verkauften sich binnen weniger Monate 150.000 Exemplare, und der Roman wurde weiterhin breit und überwiegend positiv besprochen.
Seit den 1980er Jahren gilt Gepäck aus Sand in der internationalen Literaturwissenschaft als bahnbrechendes Werk, als einer der ersten literarischen Texte, die eine Antwort geben auf die Frage, wie nach der Schoah über das Grauen und dessen generationenübergreifende Folgen geschrieben werden kann. Die amerikanische Forscherin Ellen S. Fine würdigt Anna Langfus als Pionierin, die mit den Mitteln der Fiktion um eine Ausdrucksform für »die qualvolle innere Landschaft« von Überlebenden rang. In Frankreich wurde der Roman von Myriam Ruszniewski-Dahan mit zeitgenössischen Werken von so herausragenden Autoren wie Elie Wiesel und Romain Gary verglichen, aber auch mit Romanen von Vertretern der nachfolgenden Generation, etwa Georges Perec oder dem späteren Nobelpreisträger Patrick Modiano, die ebenfalls um die unsagbaren Leerstellen kreisen und sie literarisch greifbar machen. Ruszniewski-Dahan untersucht noch die letzten syntaktischen Feinheiten bei Anna Langfus, die das »Unabgeschlossene« hervorheben: Mit dem Vergangenen lässt sich nun mal nicht abschließen. Allein deswegen lohnt es sich heute, da die Erinnerungskultur hierzulande gefährdeter denn je scheint und bestimmte Kreise wieder nach dem berüchtigten »Schlussstrich« rufen, diese Autorin wiederzuentdecken.
Die vorliegende Übersetzung ist ein Versuch, Gepäck aus Sand mit seinen Kanten und Unebenheiten ins Deutsche zu bringen, eine aufrichtige Einladung, sich heute auf ein Werk einzulassen, das nichts Versöhnliches an sich hat, sondern einer historischen und menschlichen Wahrheit verpflichtet ist. Ein Werk, bei dessen Lektüre wir erfahren können, wie vergangene Schrecken sich in Körper und Seele einschreiben und gegenwärtig bleiben. Es gibt kein besseres Mittel gegen Geschichtsvergessenheit. Und nicht zuletzt gilt es, eine große Schriftstellerin dem Vergessen zu entreißen.
Mehr zu Übersetzung und Rezeption von Anna Langfus erfahren Sie in Patricia Klobusiczkys Essay »Die vielen Leben einer Todgeweihten« auf der TOLEDO-Webseite des Deutschen Übersetzerfonds.