Absurd, komisch, makaber, boshaft, raffiniert: Edward Gorey
Mit einer Original-Edward-Gorey-Fälschung von Walter Moers in der ersten Auflage!
Edward Gorey ist nicht tot!
Vorwort von Walter Moers
Auch an seinem 100. Geburtstag ist Edward Gorey immer noch eine zeitlose Erscheinung in der Literatur- und Kunstgeschichte, die sich hartnäckig aller Deutung und Einordnung verweigert. Haben wir es mit einem freien Künstler oder mit einem Illustrator, mit einem Schriftsteller oder einem Zeichner, einem Nonsense-Dichter, einem Gothic-Horror- oder einem Kinderbuchautor, einem Surrealisten oder einem Humoristen zu tun?
All das trifft zu und auch wieder nicht. Für einen unabhängigen Künstler hat er zu viele Auftragsarbeiten abgeliefert, für einen Illustrator hat er sich zu viele künstlerische Freiheiten herausgenommen, für einen Schriftsteller hat er ziemlich wenig geschrieben, für einen Kinderbuchautor sterben zu viele Kinder in seinen Büchern, für einen Humoristen sind einige seiner Bücher zu düster und für einen Horrorautor gibt es zu viel zu lachen.
Da er bis zu seinem Tod im Jahr 2000 alleine lebte (von zahlreichen Katzen abgesehen), weiß man über sein Privatleben nur wenig. Dem öffentlichen Rummel und dem Gesellschaftsleben, das ein erfolgreicher Künstler seines Schlages hätte haben können, hat er sich entzogen, eine eigene Deutung seiner Werke größtenteils vermieden. Eine der erstaunlichsten zeitlosen Eigenschaften seiner Kunst ist die Tatsache, dass er sich in handwerklicher Hinsicht kaum entwickelt hat. Das ist im besten Sinne gemeint: Mit seinem ersten Buch Eine Harfe ohne Saiten ist er bereits im Alter von 28 Jahren als komplett ausgebildeter Künstler mit eigenem unverwechselbarem Stil, großem zeichnerischen Können und eleganter humoristischer Prosa auf den Plan getreten. Handwerklich und stilistisch hat sich bei seinen späteren Werken kaum etwas geändert, obwohl diese über einhundert Bücher in ihrer thematischen Vielfalt nicht origineller und abwechslungsreicher sein könnten.
Auch sein konsequenter Kunstgriff, sich selbst und seine Arbeit als aus einem vergangenen Jahrhundert stammend zu inszenieren und sich hinter zahlreichen Pseudonymen zu verstecken, hat ihn schon zu Lebzeiten zum Klassiker gemacht – mit einer amüsanten Konsequenz: Selbst einige seiner Fans erfuhren erst durch seinen Tod, dass er noch bis vor Kurzem gelebt hatte. Das war, auch wenn es heute märchenhaft erscheint, vor dem Internet noch möglich. Während man etliche seiner bilderstürmenden Künstlerkollegen heutzutage als typische Vertreter ihrer rebellischen Epoche abbuchen und teilweise getrost auch wieder vergessen kann, kann man Edward Gorey (wie es mir bei der Arbeit an diesem Buch ergangen ist) immer wieder neu entdecken und seine vorbildliche künstlerische Kompromisslosigkeit und vielseitige Experimentierfreude bestaunen und zur Inspiration nutzen.
So hat Edward Gorey das vielleicht Schönste erreicht, was einem Künstler widerfahren kann: Er ist, teilweise noch zu Lebzeiten, zu seinem eigenen größten Kunstwerk und damit unsterblich geworden. Seine Kunst, die nur auf den ersten oberflächlichen Blick altmodisch und wie aus einem anderen Jahrhundert wirkt, ist zeitlos modern und hochaktuell. Oder, um es etwas weniger salbungsvoll und in Abwandlung von Frank Zappas berühmter Bemerkung über Jazz auszudrücken: »Edward Gorey ist nicht tot. Er riecht nur etwas komisch.«
Walter Moers im Sommer 2024