Michael Kellner über die neuen Ginsberg-Ausgaben »Prosa« und »Lyrik«
Was verbindest du mit Allen Ginsberg? Du bist ihm auch persönlich begegnet – wann und wo war das? Hast du seine Texte danach anders gelesen?
Ich habe Allen Ginsberg zum ersten Mal getroffen, als er im Dezember 1979 zu einer Lesung nach Hamburg kam. Er war in Begleitung von Peter Orlovsky, seinem Lebensgefährten, und dem Musiker Steven Taylor. Er hat dann in unserer Buchhandlung, der Buch Handlung Welt, und in der Hamburger Markthalle gelesen. Es gab ja damals schon Platten von ihm, also habe ich ihn nicht zum ersten Mal gehört, aber ihn live zu erleben, das hat der Wahrnehmung seiner Texte schon eine Ebene hinzugefügt.
Zum einen hast du jetzt einen Band mit Ginsbergs wichtigster Prosa zusammengestellt und diese Texte zumeist erstmals ins Deutsche übertragen. Was erfährt man hier Neues über Ginsberg, der nie eine Autobiographie veröffentlicht hat in der Überzeugung, dass sein Werk alles Wesentliche enthält?
In den Tagebüchern, Briefen, Essays und Interviews erfährt man unverschlüsselt, was in den Gedichten auf eine poetische Ebene gehoben und mit allerlei Assoziationen verwoben ist … Im »Brief an Eberhart« wird zum Beispiel aufgeschlüsselt, wie er beim Schreiben von »Geheul« vorgegangen ist, im »Paris Review«-Interview beschrieben, wie sein Gedicht »Erscheinung in Wales« entstand, das »Handwerk«-Interview beleuchtet verschiedene poetologische Aspekte … Insofern sind die Gedichte die Quintessenz dessen, was er vorher gedacht und erlebt hat, und die Prosa führt uns das anschaulich vor Augen.
Außerdem hast du einen Band mit seinen wichtigsten Gedichten herausgegeben, die von deutschsprachigen Lyrikerinnen und Lyrikern neu übersetzt wurden. Warum hat man nicht auf die früheren Fassungen zurückgegriffen, die es von fast allen Gedichten gab? Was zeichnet diesen Band darüber hinaus aus?
Die meisten Übersetzungen von Ginsbergs Gedichten sind schon reichlich vierzig Jahre alt, und Sprache verändert sich ja. Außerdem verändert sich unser Wissensstand, und gerade dabei hat uns das Internet in den letzten zwanzig Jahren einen enormen Dienst erwiesen. Gedichte erklären sich nur sehr selten aus sich selbst. Mussten Übersetzer:innen früher tagelang in Bibliotheken sitzen, um offene Fragen zu klären, und nicht selten unverrichteter Dinge nach Hause gehen, kann man heute vieles online recherchieren und Nachlassverwalter oder Universitäten per Mail anschreiben. Ohne Ginsberg – der eine sehr genaue Vorstellung von Sprache hatte und wie er sie benutzte – auf Teufel komm raus »aktualisieren« zu wollen, gibt es doch manch schöne neue Wendung, die sich einer neuen Generation von Übersetzer:innen verdankt, die in unserem Fall alle selbst Prosaautorinnen und -autoren sind oder Gedichte schreiben. Zu guter Letzt: Noch nie gab es eine Anthologie auf Deutsch, die die ganze Spannbreite der Ginsberg'schen Lyrik vorstellt, von den ganz frühen bis zu den späten Gedichten, auch das ermöglicht einen neuen Blick auf sein Werk.
Die Beat Generation – was genau macht sie aus deiner Sicht aus, wie muss man sich die Gesellschaft vorstellen, in der diese »Bewegung« entstanden?
Die »Beat Generation« entstand als Reaktion einiger junger Intellektueller. Es waren Autoren am Beginn ihrer Kreativität, die in New York lebten und eine andere Position zum Leben suchten als die konsumgläubige amerikanische Majorität nach dem gewonnenen Zweiten Weltkrieg. Sie suchten an den Rändern der Gesellschaft, vornehmlich bei der Jazz-Musik und auch bei den Hobos, die seit der Depression der zwanziger und dreißiger Jahre das Land als blinde Passagiere auf Frachtzügen durchquerten. Sie suchten nach einem Lebensentwurf, der der Weite des Landes entsprach und weder Karriere noch soziales Wohlverhalten in den Mittelpunkt stellte, sondern Intensität und Offenheit der Gefühle. Lucien Carr, einer der kaum bekannten Protagonisten des frühen Kreises um Ginsberg, Kerouac und Burroughs, formulierte in diesem Sinne eine »New Vision«, die sich aus verschiedenen Vorstellungen der europäischen Boheme speiste.
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Gibt es ein Gedicht, das dieses Lebensgefühl besser einfängt als alle anderen?
»Geheul« (im Original »Howl«) ist noch immer das Gedicht, das das Lebensgefühl am unmittelbarsten einfängt und dafür die eindrücklichsten Wortbilder findet, vor allem im Hinblick auf die Entstehungszeit der »Beat Generation«.
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Welchen Prosa-Text findest du besonders lesenswert, um sich der Zeit und dem Dichter Allen Ginsberg anzunähern?
Das »Paris Review«-Interview ist wie ein großer Rundumschlag, in dem die verschiedensten Aspekte von Leben und Dichtung beleuchtet werden, manchmal nicht ganz einfach, aber doch ein umfassender Einstieg in Ginsbergs Leben und Schreiben.
Warum sollte man heute, 25 Jahre nach seinem Tod, Allen Ginsberg noch immer lesen, wieder oder neu entdecken? Welche Botschaft hält er für uns bereit?
Ginsberg ist auch heute noch ein Beispiel dafür, wie Literatur ein Weg sein kann, gesellschaftliche Konventionen in Frage zu stellen, und wie eine Literatur aussehen kann, die ebenso frei und jenseits literarischer Konventionen angesiedelt ist.