10. März 2022

Ein deutscher Rom und eine Schwarze Deutsche mit einer Idee

Gianni Jovanovic ist Unternehmer, Aktivist und eine der bekanntesten Stimmen der Rom:nja und Sinti:zze in Deutschland. Gemeinsam mit Journalistin Oyindamola Alashe erzählt er in »Ich, ein Kind der kleinen Mehrheit« seine Geschichte. Hier spricht Alashe über die Idee zum Buch, den Schreibprozess zu zweit in einer Berliner Altbauwohnung und ihre innige Freundschaft.

»Willst du ein Buch mit mir schreiben?«, als Gianni Jovanovic mich das fragte, erreichte unsere Freundschaft ein neues Level. Wir kennen uns seit ungefähr zwölf Jahren. Wir sind beste Freund*innen. Wir planen gemeinsam antirassistische Projekte und ich unterstütze Giannis aktivistisches Engagement in der queeren Community. Doch nun waren wir bereit, etwas völlig anderes zu wagen.

Wir waren ein deutscher Rom und eine Schwarze Deutsche mit einer Idee. Als Journalistin war mir immer klar, Giannis Geschichte hat das Potenzial für ein Buch. Ein schwuler Mensch, der als Teenager verheiratet wurde. Ein Mann, der als Kind von Rom*nja viel Rassismus und Diskriminierung erlebte. Er ist erst 43 Jahre alt, hat zwei Kinder und sogar drei Enkel*innen. Er kämpfte sich vom Förderschüler zum Bachelor. Er ist Aktivist, Unternehmer und Performer. Eine einzigartige Biographie, die dennoch in vielen Dingen repräsentativ für andere Sinti*zze und Rom*nja in Deutschland ist.

Für unsere ersten Gespräche zogen wir uns zunächst in eine Berliner Altbauwohnung zurück. Insbesondere abends und nachts interviewte ich meinen besten Freund. Ich bekochte uns und brühte ihm seinen geliebten Jasmin-Tee auf. Manchmal genehmigten wir uns ein Glas Gin. Wir kuschelten uns auf ein großes Samtsofa oder auf einer Liege im Erkerfenster und dann redeten wir stundenlang. Unsere Aufgabenteilung in unserem Autor*innen-Team war klar: Gianni würde erzählen, ich recherchieren und schreiben. Mit Anvar Čukoski hatten wir in den folgenden Monaten den besten Lektor, den wir uns wünschen konnten.

Die Corona-Pandemie ging auch an uns nicht spurlos vorüber: Oft traf ich Gianni nicht persönlich, sondern online oder wir telefonierten. An der Emotionalität und Intimität unserer Gespräche änderte das nichts. Ich blickte oft schweigend in die Kamera, währen Gianni sprach. Seine Stirn legte sich oft in tiefe Falten, wenn er nachdenklich in die Vergangenheit eintauchte. Über seine Wangen liefen viele Tränen. Ihn verletzlich zu sehen, tat mir weh. Aber ich beobachtete auch, wie die Anspannung in seinem Körper sich löste, wenn er seiner Traurigkeit und Wut freien Lauf lassen durfte. Und dann war da Platz für etwas Neues: fürs Lachen. Unser lautes Gackern half uns, negative Gefühle zu verpacken. Gianni sagte oft zu mir: »Humor ist meine Überlebensstrategie« oder »Humor ist mein Widerstand». Und wir Beide merkten wie heilsam unser Lachen war. Unsere Fröhlichkeit verbindet uns. Selten habe ich von meinem Wissen über psychologische Gesprächsführung mehr profitiert als in der Arbeit mit ihm. Für unsere Interviews hatte ich immer ein Ziel: Niemals würde ich ihn traurig zu Bett schicken. Immer sollte er mit einem guten Gefühl einschlafen.

Ich selbst legte mich oft mit dem Diktiergerät ins Bett. Ich hörte Gianni zu, wie er über Kämpfe und Versöhnung mit seinen Eltern sprach. Ohne Tabus erzählte er mir von seinem Coming-out als schwuler Mann. In anderen Aufnahmen ging es um einen Brandanschlag und noch mehr Gewalt, die seine Familie in Deutschland erlebte. Seine Erzählungen gaben den Anstoß weiter zu recherchieren. Ich wollte wissen, wo sich seine Erfahrungen mit denen von anderen Sinti*zze und Rom*nja deckten. Welche Geschichte hatte Europas größte »Minderheit«? Welche Strukturen gibt es in Deutschland, die Diskriminierung von Sinti*zze und Rom*nja ermöglichen und vielleicht sogar fördern?

Ich, ein Kind der kleinen Mehrheit
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Je mehr Puzzle-Teile ich zusammenfügte, desto geschockter war ich. Es machte mich fassungslos, wie viel Gewalt diese Gemeinschaft ertragen musste. Am Beispiel von meinem besten Freund sah ich wieder einmal, dass Deutschland nicht für alle Menschen ein sicheres Zuhause ist. Gleichzeitig durfte ich erleben, dass es trotz schlimmster Traumata Hoffnung, Fröhlichkeit und Liebe geben kann. Giannis Geschichte ist Empowerment pur. Er hatte den Mut, sich von gesellschaftlichen Konventionen zu befreien. Und sein Kopf ist voller No Angels-Songs und Bilder für eine gerechtere Gesellschaft. Daran mit ihm zu arbeiten, ist Inspiration, Spaß und ein großes Glück. Wäre ein Buch über den besten Freund zu schreiben ein Videospiel, dann wäre dieses Level der Endgegner. Zum Schluss heißt es »Game over« oder man gewinnt eine Freundschaft fürs Leben. Wir haben es geschafft, wir sind ein unglaubliches Team! Und wir sind überglücklich und aufgeregt, denn am 14. März 2022 erscheint endlich unser gemeinsames Baby: »Ich, ein Kind der kleinen Mehrheit».

Buchpremiere: »Ich, ein Kind der kleinen Mehrheit«

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