Über eine Welt, die sich in Auflösung befindet: ein Nachwende-Roman
Lieber Felix Stephan, wenn Sie Ihren Roman »Die frühen Jahre« in drei Sätzen beschreiben müssten …
...Dann würde ich sagen, dass ganz am Anfang die Beobachtung stand, dass in der bundesdeutschen Post-DDR-Literatur dreißig Jahre lang zwar sehr ausführlich von Dissidenten, Außenseitern, Punks und Hausbesetzern die Rede war. Die 90 Prozent der DDR-Bürger, die sich angepasst oder die Diktatur sogar aktiv durchgesetzt haben, aber kaum vorkommen. Das ist jedoch die Welt, in der ich aufgewachsen bin und über die ich etwas erzählen möchte.
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Nun spielt Ihr Roman in den Neunzigerjahren, die DDR gibt es da schon nicht mehr.
Aber die Leute gibt es noch. Mein Erzähler wächst in einer Familie auf, die zur Nomenklatura der DDR gehörte, die in den besten Instituten des Landes studiert hat. Seinen Eltern hatten glänzende Karrieren vor sich. Und von einem Tag auf den anderen stehen sie vor dem Nichts. Alles löst sich auf, alles befindet sich im Niedergang. Trotzdem ist der Erzähler ist in erster Linie ein junger Mensch, der anders als seine Eltern nicht in der Vergangenheit lebt, sondern nach einer Zukunft für sich sucht. Doch er befindet sich in einem großen inneren Konflikt: Einerseits sind die Ideale seiner Eltern diskreditiert, aber er kann sie nicht so einfach über Bord werfen, weil das einem Verrat an seiner Familie gleichkäme, die er liebt und achtet. Andererseits spürt er, dass sie ihm etwas verschweigen.
Sie sind selbst in den Neunzigern in Ostberlin aufgewachsen. Wie autobiografisch ist Ihr Text?
Ich kann nur glaubhaft über Dinge schreiben, die ich irgendwann einmal gedacht, gehört, empfunden habe, über Straßen und Viertel, in denen ich gewesen bin. Das heißt aber noch lange nicht, dass der Text ein Bericht über Ereignisse ist, die tatsächlich so stattgefunden haben.
Warum haben Sie über das Thema kein Sachbuch geschrieben, wieso die Romanform?
Weil mich das Innenleben der Figuren interessiert hat. Das Gefühl, seitlich aus der Geschichte rausgefallen zu sein, den Kalten Krieg verloren zu haben, aber man bekommt nicht einmal ein richtiges Verfahren. Man wird einfach ignoriert. Insgesamt wurden in Deutschland nur 251 Personen wegen Stasi-Verbrechen angeklagt, in nur 87 Fällen gab es überhaupt ein Urteil. Und die meisten waren sehr, sehr milde. Die Zahl der Stasi-Mitarbeiter, die in dieser Funktion Unrecht begangen haben und Schuld auf sich geladen haben, und zwar systematisch, geht in die Hunderttausende.
Ist »Schuld« in dem Zusammenhang nicht ein sehr belastetes Wort?
Vielleicht spricht man am besten von »Verantwortung«. Natürlich ist man in einer Diktatur kein freier Bürger, aber es gibt immer einen Handlungsspielraum: Frage ich nach, wohin mein Klassenkamerad plötzlich verschwunden ist, oder nicht? Halte ich Kontakt zu einem Arbeitskollegen, der wegen einer politischen Äußerung strafversetzt wurde, oder schweige ich? Und mein Eindruck ist, dass es unter Ostdeutschen ein großes Bedürfnis gibt, die Verantwortung für die kleinen Kompromisse, die man einst eingegangen ist, zu übernehmen. Als ich in der SZ einmal einen Essay über das Thema geschrieben habe, erreichten mich zahllose Briefe, in denen mir ältere Ostdeutsche ausführlich ihre Lebensgeschichten erzählten, inklusive jener Momente, in denen sie mehr hätten tun können. Ich hätte gedacht, sie würden sich angegriffen fühlen, aber das Gegenteil war der Fall. Sie waren dankbar, endlich offen darüber sprechen zu können
In Ihrem Roman wird diese Welt aus der Sicht eines Teenagers erzählt, der sich für Rap und Basketball interessiert. Er ist natürlich kein Historiker.
Er weiß das alles nicht in dieser Form, aber er bewohnt diese Welt und er spürt, wie die Vergangenheit in ihm weiterwirkt. Er entdeckt ein Gewaltpotenzial in sich, das ihm fremd ist und dessen Ursprung er nicht kennt. Und im Vergleich zu dem politisierten, kämpferischen Leben, das seine Familie geführt haben will, kommt ihm sein eigenes Leben läppisch und peinlich vor. Es bereitet ihm Freude, ein westdeutscher Teenager zu sein, der Computerspiele spielt und Markenkleidung trägt, aber es fühlt sich auch falsch und unmoralisch an. Dadurch wird die Freude an sich verdächtig. In dieser Irritation setzt sich die Traumatisierung durch die Diktatur, die natürlich auch ihre Handlanger seelisch deformiert hat, in der folgenden Generation fort. Dieses Fortwirken einer sozialistischen Vergangenheit, die nie aufgearbeitet wurde, hat mich in erster Linie interessiert.