12. Juli 2022

Kann man seiner Herkunft entkommen? Martin Simons über seinen neuen Roman »Beifang«

Martin Simons über seinen neuen Roman »Beifang«, eine Zechensiedlung im Ruhrgebiet und die Frage, ob man seiner Herkunft entkommen kann.

Lieber Martin Simons, was ist Beifang?

Beifang ist ein Stadtteil von Selm, einer Kleinstadt am Rand des Ruhrgebiets. Ursprünglich war dieser Ortsteil eine Zechensiedlung. Anfang des letzten Jahrhunderts hatte man in Selm damit begonnen, Steinkohle abzubauen.

Geläufiger ist Beifang als Bezeichnung für etwas, das beim Fischen bloß unabsichtlich ins Netz gerät und dann als toter oder verendender Abfall wieder über Bord geworfen wird.

Im Zentrum Ihres Romans steht Frank, der sich auf Spurensuche in der eigenen Familiengeschichte macht. Seine Reise führt ihn an den Rand des Ruhrgebiets. Wie ist Ihre Beziehung zum Ruhrgebiet und der Welt der Zechen?

Ich habe in einer Zechensiedlung die Kindheit bis zur ersten Schulzeit verbracht. Mein Großvater war Bergmann. Die große Zeit der Zechen und Bergleute war zur Zeit meiner Geburt schon vorbei. Es herrschte jedoch noch ein gewisser Geist. Der Stolz auf die eigene Arbeits- und Widerstandskraft. Eine große Vitalität, eine fast notorische Unangepasstheit, eine Lust am und ein Sinn fürs Über-die-Stränge-schlagen.

Wie lebte man in der Siedlung?

Neben einem gewissen Menschenschlag bedeutet für mich die Zechensiedlung vor allem die Welt der Gärten. In der Kolonie waren die Grundstücke auf Selbstversorgung zugeschnitten. Man hatte noch in meiner Kindheit Schweine, Hühner und baute sein eigenes Gemüse an. Entsprechend weitläufig waren die Gärten, an denen oftmals noch Obstwiesen anhingen. Diese riesigen Gärten gingen zaunlos ineinander über, und wir Kinder streiften in Banden umher und bekamen sozusagen aus den Augenwinkeln die tollsten menschlichen Typen, Temperamente und Tragödien mit.

Martin Simons; Beifang, Zeche Hermann
Zeche Hermann in Beifang

Frank fährt zu seinen Tanten und Onkeln, die es, wie Franks Vater, mit viel Mühe zu so etwas wie kleinbürgerlichem Wohlstand gebracht haben. Was sind das für Figuren?

Es sind die Sprösslinge des Chaos – und der Überforderung. Ihre Eltern, Winfried und Rosa, haben ja immer weiter Kinder bekommen, obwohl sie weder über die materiellen noch emotionalen Ressourcen verfügten, diese auch nur halbwegs angemessen zu versorgen. Die Geschwister sind in gewisser Weise Überlebende. Nicht alle haben es zu einer kleinbürgerlichen Stabilität gebracht. Einige von ihnen sind bis heute Randfiguren, Kleinkriminelle, Drogenhändler, Rotlichtexistenzen.

 

Was verbindet sie?

Sie neigen nicht zu Larmoyanz. Sie würden sich nie als Opfer sehen. Als Verlierer vielleicht. Aber nicht als Opfer.

 

Es ist auch ein Roman über das Schweigen der Generationen. Inwiefern durchbricht Frank dieses Schweigen?

Indem er das Gespräch über die Vergangenheit sucht. Und ihm wird dann auch viel erzählt. Seine Tanten und Onkel wollen ja ihre Geschichte loswerden. Aber die Geschichten widersprechen sich. Es ist ein wenig wie im Gleichnis von den Blinden und dem Elefanten. Jeder von ihnen ertastet einen anderen Körperteil, wie zum Beispiel ein säulengleichen Stamm oder ein langes schlauchartigen Etwas, und hat anschließend eine ganz andere Geschichte davon zu erzählen, was ein Elefant ist.

Martin Simons, Beifang
Das Thalia-Theater an der Ludgeristraße in Beifang, 1954.

Und das Eigentliche bleibt ungesagt?

Trotz aller Redseligkeit, ja. Der Moment, in dem man sich endlich vorbehaltlos alles sagen kann, ist ja eine Utopie. Frank träumt dennoch davon. Gerade in Bezug auf seinen Vater. Doch er muss einsehen, dass das Missverstehen ewig ist. Die Standpunkte sind zu verschieden. Frank bleibt bei aller Trauer über die Unmöglichkeit einer wirklichen Verständigung der Trost, es immerhin versucht zu haben. Er ist seinem Vater soweit entgegengegangen, wie es nur möglich war. Das ist ja nicht wenig.

 

Ganz allmählich setzt sich vor seinem geistigen Auge das Leben des Großvaters zusammen. Sein Kriegstrauma, sein Trinken, seine Brutalität und auch seine Güte. 

Kein Mensch ist flach und ohne Widersprüche, und auf Franks Großvater Winfried trifft das ganz besonders zu. Er hat sich im Leben überfordert. Seine Ansprüche waren größer als die eigenen Möglichkeiten. Er wollte nach Amerika auswandern und hat es dann nur als Soldat bis nach Stalingrad geschafft. Er wollte eine Katharine Hepburn verführen und wie ein amerikanischer Millionär in Saus und Braus leben. Stattdessen hat er mit einer Krankenschwesterschülerin 12 Kinder bekommen, für die es in der engen Zechenhaushälfte keinen Platz und nicht mal ausreichend zu essen gab. Seine Überforderung zeigte sich auch emotional. Er liebte seine Kinder vermutlich wirklich und sozusagen über alles. Gleichwohl war sein Herz für alle nicht groß genug.

 

Je mehr sich Frank auf die Ereignisse jener Jahre einlässt, desto stärker wird ihm bewusst, welchen Einfluss seine Herkunft auf die Gegenwart hat. Kann man seiner sozialen Herkunft entkommen?

Ich glaube nicht, dass man das kann. Nicht vollständig. Frank aber war die längste Zeit davon überzeugt. Er glaubte an die Selbsterfindung, den voraussetzungslosen Neuanfang. Er war naiv davon ausgegangen, dass man, aus eigenem Willen und eigener Kraft, ein anderer werden kann. Und für viele Jahre schien sich das zu bewahrheiten. Er hat als erster aus der Familie Abitur gemacht, studiert, im Ausland gelebt, sozusagen den Klassensprung geschafft. Die Gesellschaft hat ihm keine unüberwindbaren Hürden entgegengestellt. Und dennoch ist er in seinen neuen (sozialen) Verhältnissen nie angekommen. Er ist in gewisser Weise ein Fremdling geblieben, steht quer im eigenen Umriss.

 

Macht Frank damit seinen Frieden?

Seine Herkunft ist für ihn ein unentrinnbares Schicksal. Diese Erkenntnis ist aber auch eine Art Heimkehr. Er weiß, woher er kommt. Ich traue ihm zu, dass er damit eine Art von brüchigem Frieden schließt.

 

Sehen Sie »Beifang« auch als eine andere Geschichte aus dem Wirtschaftswunderland Deutschland?

Insofern, dass es diesen allgemeinen Aufstiegsmythos gibt. Das sogenannte Wirtschaftswunder fand ja nicht für alle statt. Bei der Familie von Franks Vater, den Zimmermanns, gab es eine gegenläufige Abstiegsbewegung zum allgemeinen Aufstieg. Während die anderen Waschmaschinen und Kühlschränke, Fernwärme und fließendes Wasser bekamen, drängten sich die Zimmermanns auf der mit jedem Kind enger werdenden

Zechenhaushälfte zusammen. Franks Vater hatte auch im Winter nur eine kurze Lederhose anzuziehen und bei starkem Frost offene Wunden an den Beinen. An vielen Tagen gab es nichts zu essen außer ein einziges Brot, und das reichte nicht einmal fürs Frühstück. Und die Säuglinge wurden, statt mit Windeln, in Zeitungspapier gewickelt, man klaubte es aus den Mülltonnen der Nachbarn. »Beifang« erzählt, unter anderem, davon, dass das Wirtschaftswunderdeutschland eben noch kein ausgebauter Sozialstaat war. Es gab erst Mitte der fünfziger Jahre ab dem dritten Kind ein kleines Kindergeld. Auch sonst gab es für kinderreiche Familien keine Zuwendungen. Diese waren sich selbst überlassen. Das lohnt es sich vielleicht vor Augen zu führen, wie löchrig das soziale Netz in den 1950ern und 1960ern im Vergleich zu heute war.

 

Vielen Dank!

Weiterer Titel

Auch im Gespräch