Ursula Gräfe über die Übersetzung von Sayaka Muratas neuen Roman »Schwindende Welt«

Das Buch erscheint am 13. August.
Sayaka Murata ist seit der Veröffentlichung von »Die Ladenhüterin« ein literarischer Superstar. Seitdem schreibt sie Geschichten, die sich trauen zu irritieren, ja sogar zu verstören. Was fasziniert die Menschen daran?
Schwindende Welt
...
Roman
Sayaka Murata ist eine unschlagbare Meisterin darin, Tabus nicht nur zu erforschen, sondern auch zu brechen. In »Schwindende Welt« legt sie Sex, romantische Liebe, Familie und Ehe auf ihren Seziertisch. Ehe und Familie fungieren nur noch als platonische Zweckgemeinschaft, romantische Liebe wird mit Comicfiguren ausgelebt – völlig losgelöst von der Fortpflanzung. Alles ist vertraut und fremd zugleich, geordnet und doch beunruhigend und zeitlos. Faszinierend ist, wie Sayaka Murata auf diese Weise alle Absurditäten einer sexistischen, konsumorientierten Gesellschaft als künstlich entlarvt. Wie hypnotisiert geraten wir in die Strömung von Amanes Welt, die auf vielerlei Art von Wasser geprägt ist, bis wir am Ende merken, dass die unterwanderten Tabus und die auf den Kopf gestellten Moralvorstellungen uns einen verrückten metaphorischen Wasserfall hinunterstürzen.

In »Schwindende Welt« gibt es eine experimentelle Stadt in Chiba, in der alle Ungerechtigkeiten unserer Lebenskonzepte über Bord geworfen wurden: Nicht die klassische Kernfamilie muss die gesamte Care Arbeit allein tragen, sondern alle kümmern sich gleichermaßen um alle Kinder, nicht die Frau trägt die Bürde der Fortpflanzung, sondern auch Männer können schwanger werden. Das klingt eigentlich nach einer Utopie, warum muss das Experiment dennoch scheitern?
Die fiktive Zukunftsstadt Experimenta hat ihre Wurzeln in der japanischen Realität, die von sinkenden Geburtenraten, der zunehmenden Unwilligkeit junger Menschen zu heiraten, Überalterung und Frauenfeindlichkeit geprägt ist. Die Welt, in die Amane uns führt, ist nah, aber noch nicht ganz da. In ihr hat man die zerstörerische Kraft der romantischen Liebe erkannt und weiß, wie sehr sie die Geschlechter auslaugt. Sayaka Murata verarbeitet Anklänge an das Konzept von Aldous Huxleys »Schöne neue Welt«, in der die Bewohner ohne Gewaltmaßnahmen wunschgemäß konditioniert werden und natürliche Empfängnis als etwas Unanständiges aus einer barbarischen Vergangenheit gilt.

Würden Sie uns einige Einblicke in den Übersetzungsvorgang an sich gewähren? Was sind die Herausforderungen und Besonderheiten bei einem Murata-Stoff?
Wie erwähnt, erheben Sayaka Muratas Erzählungen keinen Realismusanspruch. Da die japanische Sprache jedoch eine ausgeprägte Neigung zur Mehrdeutigkeit hat, ist es eine Herausforderung, die inneren Zusammenhänge ihrer Texte zu verstehen, ohne auf bekannte Muster und Sinninhalte zurückgreifen zu können. Ich halte also Ausschau nach Leitmotiven, die mir Orientierung geben, mich leiten. So zieht sich beispielsweise das Motiv von rauschendem, strömendem und sprudelndem Wasser – von Flüssigkeit überhaupt – durch den ganzen Roman, der buchstäblich mit dem Zerfließen der Hauptfigur Amane endet. Ihr Name, Amane 雨音, setzt sich aus den Zeichen für »Regen« und »Geräusch« zusammen. Bereits einer der Anfangssätze greift dies auf, bevor ihr Name ausdrücklich genannt wird: »Als seine seltsame Frage durch das Rauschen des Regens leise zu mir drang, öffnete ich, in den von unseren Körpern durchwärmten Laken schlummernd, die Augen.«
Aufgrund der Bedeutungsvielfalt der japanischen Zeichen sowie des mitunter nicht logischen Zusammenspiels von Assoziationen und Metaphern läuft der Übersetzungsvorgang immer auf mehreren Ebenen gleichzeitig ab: Verständnis, Interpretation und Sprachgefühl.

Surrealismus, Heilung und schnuckelige Cafés – was steckt hinter dem Asien-Hype?

Literatur aus Japan und Korea feiert weltweit Erfolge – von den Spitzenplätzen der Bestsellerlisten bis hin zu internationalen Auszeichnungen. Doch was macht ihre Faszination aus? Wir werfen einen Blick auf die literarischen Stimmen, Themen und Strömungen, die diesen Erfolg prägen. Bei Aufbau und Blumenbar liegt eine ganze Reihe von japanischen und koreanischen Büchern vor – vielfach ausgezeichnete Autorinnen und Autoren, die zur Crème de la crème ihrer Länder gehören.