07. Febr. 2023

»Denjenigen Tribut zollen, die unaufhörlich gegen ihre inneren Dämonen kämpfen«

Sarah Jollien-Fardel über ihr Romandebüt »Lieblingstochter«, ins Deutsche übertragen von Theresa Benkert, über ihr Schreiben, Gewalt und den unablässigen Kampf gegen innere Dämonen.

»Lieblingstochter« ist dein erster Roman - vorher warst du als Journalistin für eine Literaturzeitschrift tätig, nicht wahr? Wie kam es zu diesem Seitenwechsel?

Ich wollte schon immer schreiben. Und ich wollte immer veröffentlicht werden. Als Kind war mir nicht klar, was es bedeutet, eine Schriftstellerin zu sein, aber seit meiner Jugend war es ein unauslöschlicher Traum. Ich wollte Romane schreiben, bevor ich Journalistin wurde, also habe ich gar nicht das Gefühl, die Seite gewechselt zu haben. Ich war lange Zeit Journalistin für das, was man hässlich Lifestyle nennt, mehrheitlich Mode. Dann passten meine Werte nicht mehr zur Modewelt. Also wurde ich Chefredakteurin einer Literaturzeitschrift. In diesem Rahmen lernte ich Sabine Wespieser, meine französische Verlegerin, kennen. Ich war nach Paris gekommen, um Robert Seethaler zu interviewen. Das Gespräch verlief sehr gut, dann lud Sabine uns zum Essen ein. Während des Essens sah Robert Seethaler mich an und fragte, oder besser gesagt, behauptete: »Du schreibst.«  Ich stand wie betäubt da und sagte, dass ich Journalistin sei, also ja, ich schreibe. »Du schreibst etwas anderes. Du schreibst«, sagte er zu mir. Ich hatte den Roman 2017 schon geschrieben, aber in Paris schlechte Erfahrungen innerhalb der Buchbranche gemacht. Sabine bot mir daraufhin an, mein Manuskript zu lesen. Acht Tage später rief sie mich an und war hin und weg ...

Lieblingstochter
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Dein Roman erzählt die Geschichte einer jungen Frau, Jeanne, die unter der Gewalt ihres Vaters gelitten hat und die mit allen Mitteln versucht, sich von ihrer Vergangenheit zu befreien. Diese ungewöhnliche, verwundete, starke Heldin des Romans – ist sie dir ähnlich?

Ihre Wut und ihr Aufbegehren sind ein Teil von mir. Meine Wut hat sich inzwischen etwas gelegt. Aber ich verurteile sie nicht. Manchmal hat sie mich genervt, aber ich verstehe sie. Ich habe nicht das erlebt, was Jeanne erlebt hat! Sie wurde in meinem Kopf geboren, ich musste sie nur handeln lassen und wiedergeben, was sie tat, was sie fühlte ...

 

Die Erfahrung mit Gewalt bewirkt hier glücklicherweise zugleich die radikale Emanzipation dieser jungen Frau, die auf der Suche nach sich selbst und der Liebe ist. Kann man die Vergangenheit tatsächlich hinter sich lassen?

Das versucht man uns glauben zu machen! Es gibt sehr gute Bücher über Persönlichkeitsentwicklung, aber ich kann diese Aufforderungen, »die beste Version von sich selbst zu sein«, glücklich zu sein, Erfolg zu haben usw. nicht mehr hören. Ich glaube an Resilienz. Aber es gibt auch »verhinderte« Menschen, deren Leiden und Vergangenheit sie immer wieder einholen. Ich wollte denjenigen Tribut zollen, die unaufhörlich gegen ihre inneren Dämonen kämpfen ...

 

Deine Geschichte spielt in einem sehr kleinen Bergdorf in der Schweiz. Warum hast du diesen Ort und diese Region gewählt?

Es war naheliegend, von Orten zu sprechen, die ich kenne. Ich glaube, dass wir von den Orten, aus denen wir kommen, geformt werden. In einer Großstadt oder einem kleinen Bergdorf geboren zu sein, prägt uns - ob wir es wollen oder nicht – und unsere Persönlichkeit, unser Temperament, unsere Seele. Man kann sie verleugnen, aber die Orte, unsere Ursprünge, bleiben tief in uns verborgen. Und werden zwangsläufig irgendwann zum Vorschein kommen ... Mir war es auch wichtig, einen Roman zu schreiben, der in der Realität verankert ist. Die Atmosphäre, die Landschaften, die Charaktere, die Riten und die Bräuche sind echt. Es ist eine Hommage an das Wallis und den Genfersee, den ich innig liebe. Ich kenne diese ganze Region sehr genau und empfinde sie fast körperlich. Ich bin wahrscheinlich noch nicht fertig damit, über sie zu schreiben ...

 

Ist Gewalt in der Familie heute ein wachsendes gesellschaftliches Phänomen?

Ich weiß nicht, ob sie zunimmt, aber ich stelle fest, dass es ein echtes Problem mit Gewalt gibt, auch mit innerfamiliärer Gewalt. Man spricht darüber, aber sie verschwindet nicht. Man müsste die Männer behandeln (es sind vor allem Männer, die Gewalt ausüben), da das Anprangern und das Darübersprechen allein noch keine Lösung darstellen. Das ist eine Sache, die mir sehr am Herzen liegt. Ich habe nicht nur ein Buch zu diesem Thema geschrieben, ich engagiere mich auch und habe mich als Freiwillige in einem Haus für misshandelte Frauen angemeldet. Dort gehe ich einmal pro Woche hin.

 

Dein Schreibstil ist sehr bildreich, und er schafft eine dichte, anziehende Atmosphäre. Man möchte das Buch von der ersten Zeile an nicht mehr aus der Hand legen. Wer sind deine »Vorbilder«? Oder wer ist dir nahe unter den heutigen Schriftsteller:innen?

Ich sehe die Bilder beim Schreiben. Oft sogar schon vor dem Schreiben. Und ich mag zeitgenössische Autor:innen wie Marie-Helène Lafon, Emmanuel Carrère, Philipp Roth, Robert Seethaler. Oder auch Paul Eluard, den Dichter, den ich mit 17 Jahren entdeckt habe und den ich über alles liebe oder Emily Dickinson und Cormac Mc Carthy, dessen Buch »Die Straße« ein Schock war.

 

Sarah_Jollien-Fardel_Prix_du_Roman

Der Erfolg von »Lieblingstochter« in Frankreich ist enorm für ein Debüt: mehrere renommierte Preise, u.a. den »Prix du Roman Fnac« und den »Goncourt de la Suisse«, und über 50.000 verkaufte Exemplare. War das für dich überraschend? Wirst du jetzt weiterschreiben?

Ja, das kam völlig unerwartet! Ich hatte so viel Spaß, so viel Glück, diesen Roman zu schreiben und mit den Figuren eins zu sein. Das Schreiben dieses Buches gehört zu den schönsten Momenten meines Lebens. Ja, ich will, ich träume davon, immer und immer wieder zu schreiben. Aber würde es mir gelingen, diese Osmose mit den Figuren wiederzufinden? Es gibt Themen und persönliche Obsessionen, die mir wirklich unter den Nägeln brennen. Aber werde ich die passende Form und Geschichte dafür finden? Ich weiß es noch nicht. Ich hoffe es.

Aus dem Französischen übersetzt von Johanna Links.

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