15. Nov. 2021

Gisèle Halimi und die Geburt des aktiven Feminismus

Ohne sie ist der heutige Feminismus nicht denkbar: Als Anwältin kämpfte Gisèle Halimi wie keine andere für die Rechte der Frauen. Zusammen mit Simone de Beauvoir ebnete sie ihnen den Weg für mehr Freiheit und Selbstbestimmung. Es ist die bewegende Geschichte einer lebenslangen Rebellin und unerschrockenen Kämpferin!

Warum Feminismus Handeln bedeutet – Auszug aus dem Vorwort von Julia Korbik zu Halimis Buch „Seid unbeugsam! Mein Leben für die Freiheit der Frauen“

(…) Mit jeder Faser ihres Seins war Gisèle Halimi eine Macherin. Sie verstand, dass es oft Gesetze und Rechtsprechungen braucht, damit sich in der Gesellschaft konkret etwas verändert. Vor allem, wenn es um Geschlechterrollen und ‑bilder geht. Sie trug nicht nur erheblich dazu bei, dass Abtreibung in Frankreich legalisiert, sondern auch dazu, dass Vergewaltigung als Verbrechen definiert und bestraft wurde. Vor Gericht hielt Halimi leidenschaftliche, emotionale Plädoyers, die sich heutzutage gut in einer der Serien von Shonda Rhimes machen würden – in Scandal, zum Beispiel, oder How to get away with murder, wo schlaue, wortgewaltige Frauen Männer in Grund und Boden reden. Dabei heißt es über Frauen ja oft, sie seien zu emotional, sie hätten ihre Gefühle nicht im Griff. Es wird von ihnen erwartet, dass sie sich sogenannte »männliche« Verhaltensweisen zulegen, wenn sie beruflich erfolgreich sein wollen. Gisèle Halimi ist ein Beispiel dafür, dass es auch anders geht. Sie hat ihre Emotionen, ihr Mitgefühl, zu ihrer Superpower gemacht, zu dem, was sie als Anwältin so erfolgreich sein ließ. Sie hat gezeigt, dass man – als Frau – die eigene Persönlichkeit nicht ablegen und sich einem vermeintlich männlichen Ideal anpassen muss, um Karriere zu machen.

Gisèle Halimi

Auf dem Conseil National de l'Union des Femmes de France in Bagnolet, 1975.

Wenn Halimi als Anwältin so eine Wucht war, dann auch deshalb, weil sie sich selbst als Frau, die bestimmte Erfahrungen gemacht hat, einbrachte. Sie war eben eine Anwältin, kein Anwalt. Sie war außerdem eine Frau mit einer Mission, das Ziel stets im Auge: eine gleichberechtigtere Gesellschaft. Eine Gesellschaft, in der Frauen nicht auf ihr Frausein reduziert werden, in der sie Raum einnehmen können. Halimi selbst hat sich diesen Raum genommen und sich dafür nicht entschuldigt. Sie war kompromisslos sie selbst – als Frau, als Anwältin. Und: Sie war eine lebenslange Rebellin. Ihre Rebellion begann mit dem Hungerstreik, damals, in den 1930er Jahren, in einem kleinen Ort in Tunesien. Letztendlich ging es Gisèle Halimi darum, dass Frauen frei sein sollen. Sie sollen die Wahl haben, selbst entscheiden zu können, was sie wollen oder nicht, ihr Leben nach eigenen Maßstäben gestalten. Halimi erlebte als Mädchen und junge Frau, wie es ist, wenn man keine Wahlfreiheit hat. Wenn jeder Tag ein Kampf gegen Erwartungen, gegen tradierte Geschlechterrollen, gegen dieses Gefühl des Zu-wenig-Seins ist. Wenn die eigene Geburt vom Vater als Katastrophe empfunden wird, denn was zur Hölle soll man mit einem Mädchen anfangen? Drei Wochen lang, so wurden Halimis Eltern nie müde zu betonen, hätte er die Geburt der Tochter vor der Verwandtschaft geheim gehalten – die Schande, die Schande! Kein Wunder, dass die erwachsene Gisèle Halimi keinerlei Verständnis für und keine Geduld mit patriarchalem – man muss es so sagen – bullshit hatte. Dass sie mit aller Macht dagegen kämpfte, dass Mädchen und Frauen im Namen von Tradition, Anstand, Ehre, was auch immer, kleingehalten werden. (…)

Gisèle Halimi

Gisèle Halimi gibt eine Pressekonferenz während des Abtreibungsprozesses in Bobigny, 1972.

Von den heutigen Frauen erwartet Gisèle Halimi nichts weniger als eine »Revolution«. Und das ist ihr gutes Recht, schließlich hat sie sich jahrzehntelang dafür abgerackert, dass künftige Frauengenerationen es besser, mehr Möglichkeiten haben. »Na los«, scheint Halimi zu rufen, fassungslos, dass die Gesellschaft immer noch so ist, wie sie ist. Dass das Patriarchat sich immer noch so verzweifelt an seine Macht klammert, in Frankreich und anderswo. Halimis feministische To‑do-Liste ist lang, ihre Ratschläge an die jungen Frauen von heute lauten: Seid wirtschaftlich unabhängig, seid egoistisch, lasst euch nicht einreden, dass ihr unbedingt Kinder bekommen müsst, gründet Netzwerke, habt keine Angst, euch Feministinnen zu nennen.

Gisèle Halimi

Mit Simone Beauvoir und Jean-Paul Sartre beim Mittagessen in Paris, 1970.

Wenn man sich Gisèle Halimis Leben und Wirken anschaut, lassen sich noch weitere Ratschläge ableiten. Zum Beispiel: Geht dahin, wo die Macht ist. Denn wenn Frauen nicht mitentscheiden, nicht mit am Tisch sitzen, dann ist das ein Problem. Halimi selbst unterstützte seit den 1960ern die Kandidatur von Frauen für politische Ämter und ließ sich 1981 als Parteilose in die französische Nationalversammlung wählen. Dort hielt sie es allerdings keine Legislaturperiode aus, nach drei Jahren schmiss sie hin. Was vor allem an dem »chauvinistischen Umfeld« lag. Schaudernd erinnerte sie sich an den ersten Tag im Plenarsaal: »Eine Flut an Männern in dunklen Anzügen strömte in die Reihen, aus denen hier und da ein paar einzelne Frauen in farbigen Kostümen herausragten. Was für eine Misere!« Halimi begriff, dass sie dem Ziel der Gleichberechtigung besser auf andere Weise dienen könnte. Auch das ist ein halimischer Ratschlag: Überlegt euch, wie ihr euch am besten einbringen, wo ihr am meisten bewirken könnt. Gleichzeitig war ihr klar, dass die politische Kultur und letztendlich die Gesellschaft sich nur dann ändern, wenn mehr Frauen mitbestimmen und Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen.

Der aber wohl wichtigste Ratschlag von Gisèle Halimi ist dieser: Packt es an! Gleichberechtigung passiert nicht einfach, sie wird Frauen nicht »zugestanden« – sie muss erkämpft werden. Dieser Kampf darf ruhig wütend, unbequem und fordernd sein. Und: Er ist noch lange nicht zu Ende. Halimi warnt klarsichtig: »Wenn wir aufhören, droht der Sturz. Wenn wir aufhören, sind wir geliefert. Also seid auf der Hut, seid aufmerksam und kämpferisch.« Kämpferisch, wie sie selbst es 93 Jahre lang war. Diese unbequeme, laute, freie Frau, die keinen Schlaf zu brauchen schien und es nie so richtig schaffte, in den Ruhestand zu gehen. Weil es immer noch so viel zu tun gab – und gibt.

Auch im Gespräch