Gulbahar Haitiwaji über ihre Haft im Umerziehungslager
Auszug aus dem Vorwort von Rozenn Morgat zu Gulbahar Haitiwajis Buch »Wie ich das chinesische Lager überlebt habe«
Eines Morgens im November 2016 erhielt Gulbahar einen seltsamen Anruf aus Xinjiang. Ein Angestellter ihres früheren Unternehmens bat sie, nach China zu kommen. »Wegen administrativer Angelegenheiten«, »Dokumente für Ihren Vorruhestand«, erklärte er. Gulbahar wurde nicht misstrauisch oder nicht misstrauisch genug. Ein paar Tage später landete sie in Ürümqi und ihr Leidensweg begann: Die Behörden nahmen ihr den Pass weg und steckten sie in ein Gefängnis, dann, nach Monaten in einer Zelle, deportierten sie sie ohne ein Urteil in ein Lager.
Im Wohnzimmer in Boulogne saß Gulbahar zwischen ihrer Tochter Gulhumar und mir und durchlebte noch einmal diese Zeit der Leere. Sie konzentrierte sich, die Stirn etwas in Falten gelegt, mit ernster Miene. Was empfand sie, als die Wachen sie 20 Tage lang an ihr Bett gekettet hatten? »Nichts«, antwortete sie mit verstörtem Blick, weil sie selbst spürte, wie seltsam ihre Antwort klang. Als man sie in einer eisigen Dezembernacht in einen Lastwagen steigen ließ, ohne ihr zu sagen, wohin sie gebracht werden sollte, dachte Gulbahar, man würde sie in der verschneiten Wüste erschießen. Und was empfand sie da? Auch nichts. »In diesem Moment war ich innerlich tot.« Und als man ihr ankündigte, sie werde freigelassen? »Da bin ich starr auf meiner Pritsche liegen geblieben.« Im Verlauf ihrer »Umerziehung« verschwanden ihre menschlichen Empfindungen. In der Vertraulichkeit unserer Gespräche fand sie sie wieder.
Unter dem mitfühlenden Blick ihrer Tochter, der ihre Befreiung vor allem zu verdanken ist und die unsere Gespräche übersetzte, durchlebte Gulbahar jede Szene ihres Dramas aufs Neue. Sie sprach mit der groben Stimme des Polizeichefs oder mit der inquisitorischen des falschen Richters, der sie verurteilte. Wenn ihr die Worte fehlten, stand sie auf und imitierte den mühsamen Gang mit Ketten an den Knöcheln oder den steifen, martialischen Schritt der Militärparaden. Sie marschierte quer durch das Wohnzimmer, aufrecht, die ausgestreckten Arme eng am Körper. Dann drehte sie sich zu uns um und brach in ein ansteckendes Lachen aus. »Das ist lächerlich, oder?« Wir lachten. Wenn sie sich so über sich selbst und über die anderen lustig machte, entlarvte sie den Irrsinn des Lagersystems. Auch als sie mir von den Geständnissen erzählte, die sie unter Zwang bei der Polizei abgegeben hatte, wurde sie von einem wilden, unkontrollierbaren Lachen gepackt. Ja, oft halfen ihr Spott und Lachen gegen ihre Traumatisierung. (…)
Während China gar nicht daran denkt, sein Lagersystem in Xinjiang zu beenden, sondern weiter Uigurinnen und Uiguren deportiert, weiter Uigurinnen zwangssterilisiert, ohne dass sich bis heute die UNO oder eine andere internationale Delegation ein Bild vom Ausmaß dieses Genozids machen kann, spricht Gulbahar, die erste Gefangene, die von Frankreich befreit wurde, in diesem Buch in ihrem eigenen Namen. Dafür gebührt ihr und ihrer Tochter Gulhumar größter Dank.
»Dieser Bericht der Uigurin Gulbahar Haitiwaji aus Xinjiang ist ein zu Herzen gehendes, ein kostbares und ein aufschlussreiches Dokument, dem eine sehr breite Aufmerksamkeit zu wünschen ist.«
Gesine Schwan