10. Jan. 2022

Jakob Augstein über seinen Romanerstling »Strömung«

»Strömung« ist das Romandebüt von Verleger und Publizist Jakob Augstein. Hier spricht er über das literarische Schreiben, die Grenzen von Wirklichkeit und Fiktion und seine Hauptfigur Misslinger.

Sie waren als Publizist und Verleger tätig, sind leidenschaftlicher Gärtner und haben ein Gartenbuch veröffentlicht – was hat Sie bewegt, nun einen Roman zu schreiben?

Die Idee dazu kam nicht direkt über Nacht. Ich hatte das schon lange vor. Aber es hat eine Weile gedauert, bis ich den Eindruck hatte, dass die Zeit dafür reif sei.

 

Was kann die Literatur, was der Journalismus nicht kann? Oder anders gefragt: Wie unterscheidet sich das journalistische vom literarischen Schreiben?

Es sind zwei verschiedene Berufe, die nicht viel miteinander zu tun haben. Abgesehen davon, dass die Grenze zwischen dem, was man Erfindung und Wirklichkeit nennt, nicht selten schmaler ist, als wir uns einreden. Zum Beispiel unsere frühere Bundeskanzlerin, die es ja offenbar wirklich gegeben hat, habe ich mir die meiste Zeit überhaupt nur als literarische Figur vorstellen können.
 

 

Der Protagonist Misslinger ist "ein Mann unserer Zeit". Inwiefern?

Er ist ein Kind der neunziger Jahre, ein Kind Helmut Kohls, ein Kind der großen westlichen und männlichen Selbstgewissheit. Sein Lebensmotto ist das des Trommlers aus Grimms Märchen: Was ich will, das kann ich. Das muss irgendwann schiefgehen, in der Wirklichkeit wie in der Literatur.

 

Welche Rolle spielen die Frauen – Misslingers Ehefrau Selma und seine Tochter Louise?

Misslingers Frau erkennt den Abweg, auf den ihr Mann geraten ist, und versucht, ihn zu warnen. Seiner Tochter dagegen bedeuten Welt und Werte ihres Vaters gar nichts mehr, wie er zu seiner großen Enttäuschung feststellen muss. In diesem Buch sind die Frauen also klüger als die Männer, wahrscheinlich auch menschlicher. Da unterscheidet sich die Literatur von der Wirklichkeit, in der Frauen meiner Erfahrung nach weder die besseren noch die schlechteren Menschen sind.

 

Ihr Buch spielt in Deutschland und den USA und dort in New York und Long Island. Welche Bedeutung hat diese Verortung?

Misslinger befindet sich in einer Lebenskrise und sucht dort Halt, wo er die Wurzeln seines Glaubens wähnt: in den USA. Von dort hat er seine leistungsorientierte, egozentrische Religion entliehen. Amerika ist sein Mekka. Er begibt sich also auf eine Pilgerreise nach New York, ganz so wie sich sein sehr gläubiger Vater seinerzeit auf Pilgerreise nach Rom begeben hat. Aber das Amerika, das er vorfindet, ist von derselben Krise erfasst, die ihn beutelt.

 

Der Roman führt auch nach Montauk – es fällt schwer, nicht an Max Frisch zu denken.  War er Vorbild? Anders gefragt: Wer waren die Vorbilder, an wem orientiert sich Ihr Schreiben?

Ganz am Ende führt der Roman auch nach Montauk, streng genommen nach Montauk Point. Das hat weniger mit der Literaturgeschichte als mit der Geographie zu tun: da steht der Leuchtturm, der das östliche Ende Long Islands markiert. Das ist für Misslinger offenkundig ein symbolischer Ort: dort geht es nicht mehr weiter, da kann man nur noch schwimmen. Das bedeutet, wer hier angekommen ist, ist am Ende seines Weges angekommen. Aber ich habe »Montauk« natürlich gelesen und finde Frisch toll, weil sein kühler Stil mir sehr zusagt. Darum heisst sozusagen als Reverenz, der rätselhafte Hausmeister, den Misslinger auf Shelter Island trifft, mit Vornamen Max.

 

»Strömung« ist auch eine Abrechnung mit der Politik oder zumindest eine schonungslose Analyse. Vor allem der Liberalismus, wie ihn Misslinger vertritt, steht auf dem Prüfstand. Ist er bei Misslinger zur Floskel verkommen?

Nein, nicht zur Floskel, sondern zur Religion. Das ist schöner und trauriger und schlimmer. Misslinger glaubt alles, was er sagt. Er ist viel weniger ein Zyniker als man denken könnte. Darum läuft es für ihn auch nicht so gut.

 

Im Zentrum Ihres Romans steht ein Politiker – sehen Sie Ihr Buch als Politikroman?

Nein. Misslinger arbeitet in der Politik, das hat bestimmte Konsequenzen für die Handlung, aber es geht nicht um Politik. Er könnte auch in einem Autohaus arbeiten oder in einer Versicherung. Das eigentliche Thema des Buches ist der Glauben.
 

 

Werden Sie weiterschreiben?

Ja, ich bin dabei.
 

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