05. März 2025

Verpasste Chancen, neue Chancen

Kriege, Krise, Klimakatastrophe – Georg Diez definiert in seinem Buch »Kipppunkte« die Neunziger als Schlüsseljahrzehnt unserer Gegenwart und Zukunft, zeichnet nach, wie sie die Welt bis heute prägen, und zeigt auf, wie wir gemeinsam alternative Wege beschreiten können. Hier finden Sie einen Auszug aus seinem Vorwort.
Kipppunkte
Empfehlung

Von den Versprechen der Neunziger zu den Krisen der Gegenwart
Hardcover
26,00 €

Der Horizont scheint zu verschwinden, der Blick auf die Zukunft scheint sich zu schließen.

Das Gefühl von Krise ist umfassend, und in der abermaligen Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten verdichten sich Autoritarismus, Demokratieverneinung, Profitgier, Rassismus, Frauenverachtung und Neodarwinismus – verbunden mit der entgrenzten Klimakatastrophe und einer toxischen Kombination von Technologie und Kapital.

Was aber haben die neunziger Jahre damit zu tun?

Im Rückblick fällt die aufgekratzte Apathie jener Zeit auf, eine echte und eine falsche Euphorie, dass es – trotz der Kriege in Irak und auf dem Balkan und des Genozids in Ruanda, um nur ein paar Schrecken dieses Blutjahrzehnts zu nennen – nun immer besser werden würde. Freiheit sollte endlich Gestalt annehmen.

Was auch auffällt, das ist die Dunkelheit, die am Anfang der Dekade herrschte, die Verstörung, die Verweigerung, die Gewalt, die aus dem Herzen des Kapitalismus selbst kam, die sich gegen diesen Kapitalismus wendete und in der Kultur spiegelte: Generation X, Nirvana und der Selbstmord von Kurt Cobain; Bret Easton Ellis’ Roman American Psycho und Blutlust aus turbokapitalistischem Selbsthass; Fight Club, das Buch und der Film, wo die Gewalt, die in Gier und Geld geborgen ist, nach außen gewendet wurde, Mann gegen Mann und jeder gegen sich selbst. Was weiter auffällt, das ist, wie wenig wir uns erinnern wollen, wie umfassend die Amnesie ist und wie absichtsvoll.

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Porträtfoto Georg Diez
Autor:in

Georg Diez, geboren 1969 in München, ist Journalist und Buchautor.

Ich glaube daran, dass Ideen helfen, die Welt zu gestalten, und dass es darum geht, bestimmte Ideen wie Freiheit, Gleichheit, Solidarität auf der Folie der neunziger Jahre neu zu definieren.

 

Und so bleibt die Hoffnung, dass dieses Buch so wirkt, wie es gemeint ist: Als Einladung, gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir gemeinsam weitermachen wollen. Es ist kein Werk der Melancholie oder des Pessimismus. Es geht nicht darum zu zeigen, was alles falsch gelaufen ist. Es geht darum zu verstehen, was wir tun müssen, um die Dinge wieder zu richten. Dafür sind neue Ideen und neue Allianzen notwendig. Dafür ist auch eine andere Art von Politik notwendig, die sich aus der Selbstentmachtung der neunziger Jahre befreit, und eine neue Rolle für den Staat, der Treiber der Veränderungen sein muss. Das bedeutet eine tiefe Revision wesentlicher Grundlagen des Denkens dieser Zeit.

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Die Alternativen zeichnen sich immer klarer ab. Elon Musk ist too rich to fail, er ist der Principe unter der neuen Gang der Tech-Fürsten, die einen digital getriebenen Neofeudalismus zum Ziel haben. Donald Trump macht das autoritäre Denken great again. Und Mark Zuckerberg führt den Opportunismus der Wirtschaftseliten vor, die allzu leicht der Logik von Macht und Stärke folgen. Das Interregnum ist vorbei. Wir leben in einer neuen Epoche, die sich vor unseren Augen entfaltet. Die neue Ära, die auf jene folgt, die mit den neunziger Jahren begann, wird unübersichtlich sein und voller alter und neuer Gewalt. Wir müssen uns darauf vorbereiten. Wir werden eine Weile damit leben. Der Blick zurück hilft. Verstehen ist das eine, handeln ist das andere.

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