»Eine unbändige Liebe zum Leben«
Victoria, in Deinem Buch geht es darum, wie Du in die Ukraine fährst, das Land, in dem Du aufgewachsen bist. Du gehst der Geschichte Deiner Familie auf den Grund und machst Dich auf die Suche nach dem Schicksal Deines Urgroßvaters Nikodim, der vor fast hundert Jahren spurlos verschwunden ist und über den in Deiner Familie niemand gesprochen hat. Warum glaubst Du, war das so?
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Alte Ängste lassen sich nur schwer abschütteln. Ich wusste nicht, wie sehr das stimmt, bis ich in die Ukraine zurückkehrte und anfing zu reisen und Menschen zu treffen. Die Sowjetzeit hat den Menschen in der Ukraine viele traumatische Ereignisse gebracht, und die Narben sind bis heute geblieben. Bestimmte Themen bleiben tabu oder sind einfach unbearbeitet. So war es auch in meiner Familie. Meine Großmutter war überzeugt, dass es am besten ist, die Vergangenheit Vergangenheit sein zu lassen, aber wir haben irgendwann beide erkannt, dass es unmöglich ist, die Tür vor alten Geheimnissen zu verschließen.
Deine Großmutter Valentina ist eine der Hauptfiguren im Buch. Sie zeichnet sich aus durch eine gewisse Sturheit und die tiefe Liebe zu ihrem Garten aus, um den sie sich hingebungsvoll kümmert. Warum war der Garten von so großer Bedeutung für sie?
Die Bedeutung von eigenem Stück Land ist zentral für die ukrainische Identität, denn im Laufe ihrer Geschichte mussten die Ukrainer immer wieder um ihr Land kämpfen. Der Garten symbolisiert einen Ort der Schönheit und des Genusses, vor allem aber ist er ein Ort der Geborgenheit und ein Quell für Nahrung. Viele Menschen kommen mit dem Anbau von Obst und Gemüse aus dem eigenen Garten über die Runden, und so hat das eigene Stück Land eine wichtige Bedeutung. Für meine Großmutter Valentina ging es darum, Zeit im Garten zu verbringen, um uns vor Katastrophen zu schützen. Und sicherlich prägte das Erleben von Hungersnöten ihre Haltung. In gewisser Weise zeigt ihre Besessenheit von ihrem Garten, warum die Ukrainer so widerstandsfähig und so mutig waren, ihr Land zu schützen.
Wenn Du an die Gerüche, Düfte und Gerichte denkst, die sich für Dich mit dem Garten und dem Haus Deiner Großmutter in Bereh verbinden, was kommt Dir zuallererst in den Sinn?
Ich denke an das Osterbrot meiner Großmutter, Paska, ein großes, briocheartiges Gebäck, und ihre nach Zimt und Orangenschale duftenden Honigkuchen. Ich erinnere mich an den mandelartigen Duft von Flieder, der um das Dorf wächst und das Haus mit seinem üppigen Aroma erfüllt. Eine weitere lebhafte Assoziation ist der Duft von Tomatenblättern. Es ist scharf und stechend und wenn ich ihn rieche, stehe ich sofort wieder mit meiner Großmutter im Garten.
Während Du Dich auf die Suche nach Deinem verschwundenen Urgroßonkel machst, wird klar, dass es dabei auch um Dich selbst und das Finden Deiner eigenen Identität geht. Was hast Du über Dich selbst herausgefunden, als Du nach Nikodim suchtest?
Mir wurde vor allem klar, dass meine Verbundenheit zur Ukraine auf vielen verschiedenen Ebenen, von der Identität bis zur Sprache, sehr stark ist. Mir ist auch klar geworden, dass ich die Welt um mich herum durch Suchen und Hinterfragen begreife. Und dass Erinnern für mich wichtig ist.
Gibt es etwas, das wir aus der Vergangenheit lernen können, um die Gegenwart besser zu verstehen?
Die Geschichte meiner Familie hat viele tragische Aspekte, aber es gibt auch Hoffnung. Es geht darum, sich auf Dinge zu konzentrieren, die man beeinflussen kann, und nach Schönheit zu suchen, egal unter welchen Umständen. In diesem Sinne symbolisiert Valentinas Liebe zu ihrem Garten ihre unbändige Liebe zum Leben und enthält eine inspirierende Botschaft für uns alle. Wie meine Urgroßmutter Asya immer sagte: »Egal was passiert, suche Schönheit und erschaffe etwas.«
Wenn Du es Dir aussuchen könntest, neben welchen anderen Büchern sollte »Rote Sirenen« am liebsten in Buchhandlungen liegen?
In der Nähe von Edmund de Waal, »Der Hase mit den Bernsteinaugen«, Lea Ypi, »Frei« und Hisham Matar, »Die Rückkehr«.
Die Fragen stellte Friederike Schilbach.