»Dieses Buch is eine versteckte Autobiografie darüber, was ich hätte sein können«

Im zweiten Teil des Interviews zum neuen Roman spricht er darüber, wie all seine Geschichten miteinander verknüpft sind und was seinen Bruder und ihn verbindet/unterscheidet.

Der Absturz
...
Roman
Die Geschichte von Louis’ Bruder ist die eines ständig scheiternden Träumers.
In der Arbeitswelt ohne Aussicht, wünscht er sich ein größeres Leben. Eines, in dem er Kathedralen restauriert, die Welt bereist und die Liebe seines Vaters verdient. Doch nichts davon lässt seine Wirklichkeit zu, er versinkt in Alkohol- und Spielsucht und bleibt ein tragischer Phantast. Dieses Buch ist ein schonungsloses und doch zartes Porträt des Bruders, der in berührenden Szenen immer wieder versucht, dem jüngeren Édouard einen anderen Weg ins Leben zu weisen als den eigenen.
»Frankreichs größte literarische Sensation.« The New York Times
In Ihrem neuen Buch »Der Absturz« beschreiben Sie, wie Sie die Gewalt Ihres Bruders als eine Art psychologische Reaktion auf die männliche Konditionierung in seinem Umfeld sehen. Auf das Patriarchat und den ganzen Druck in einem sehr armen Arbeitermilieu. Dass vermeintlich seine einzige Möglichkeit, psychologisch darauf zu reagieren, um zu versuchen, sich daraus zu befreien, in der Gewalt lag?
In gewisser Weise sind mein Bruder und ich gar nicht so verschieden.
Ich erinnere mich, als ich mit meinem besten Freund Didier Eribon über meinen Bruder sprach, sagte Didier zu mir: »Wenn du zwei Söhne aus derselben Familie nimmst, die an Depressionen leiden, wird der schwule ein Künstler und der heterosexuelle ein Alkoholiker.« Das war nur ein Satz, den Didier beim Abendessen sagte. Aber er war so kraftvoll. Denn er sprach darüber, wie sehr dieser psychologische Aspekt der seelischen Unruhe und der Depression manchmal gegenteilige Folgen haben kann, wenn er mit anderen soziologischen Aspekten zusammenwirkt, gegenteilige Effekte, die einander völlig widersprechen.

Als schwuler Junge wurde ich stärker gesellschaftlich beherrscht und unterdrückt als mein Bruder während unseres Aufwachens. Aber gerade weil ich mehr unterdrückt wurde, musste ich eigene Wege finden, um zu existieren, ich musste meine eigenen Wege finden, um zu entkommen, während mein Bruder einfach die Wege nahm, um zu entkommen, die es um ihn herum gab. Aber das waren falsche Wege, Alkohol, Gewalt, Gewalt gegen Frauen. Und all das hat ihn erdrückt.
Aber ich und meine Mutter, als Menschen, die gesellschaftlich stärker unterdrückt waren, wir mussten alternative Wege finden.

Das Interview führte Elisabeth Botros
Mehr aus der Interviewreihe
Im Ersten Teil, »Literatur ist das Ende des Urteilens.«, sprach Édouard Louis über das Schreiben, das Verhältnis zu seinem Bruder und über die Möglichkeit der Veränderung durch Literatur.
In Teil drei, der im November folgt, verrät er, warum »Der Absturz« ganz anders als seine anderen Bücher ist und warum er sich darin tiefer mit psychologischen Themen beschäftigt.