Das Werk einer 22-Jährigen aus North Carolina wird nach Jahrzehnten gefunden – und jetzt weltweit gefeiert
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Diane Oliver wurde 1943 in Charlotte, North Carolina, geboren. Sie entdeckte früh ihre Leidenschaft für die Literatur, und schnell zeigte sich ihr schriftstellerisches Talent. Sie veröffentlichte vier Kurzgeschichten, eine davon wurde mit dem renommierten O. Henry Award ausgezeichnet. Was für ein Erfolg für die junge schwarze Frau in der Zeit der amerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Und dann der tragische Unfall – sie starb 1966 als Beifahrerin auf einem Motorrad kurz vor ihrem Master-Abschluss an der University of Iowa, wo sie den Writers' Workshop absolvierte. Sie ist nur 22 Jahre alt geworden.
Zwei weitere Storys wurden postum veröffentlicht, dann geriet die junge Frau mit ihrem schmalen, dabei absolut beeindruckenden Werk völlig in Vergessenheit. Bis vor Kurzem die britische Literaturagentin Elise Dillsworth in einem Artikel auf ihren Namen stieß und neugierig wurde. Sie sei verblüfft gewesen, sagt die Agentin, dass sie noch nie von dieser Schriftstellerin gehört hatte, die mit Shirley Jackson, Zora Neale Hurston und James Baldwin verglichen wurde. Sie wollte unbedingt mehr über diese unbekannte literarische Stimme herausfinden und machte sich auf die Suche, die sie schließlich zu Diane Olivers Schwester und ihrer Nichte führte – mit einem Ergebnis, das ihre Erwartungen und Hoffnungen weit übertraf: Gut verstaut, lagerten hier bislang unveröffentlichte, völlig unbekannte Storys.
Warum blieben die meisten der Geschichten unveröffentlicht? Lag es an ihrem tragischen Unfalltod, oder musste die amerikanische Gesellschaft erst reifen, bevor sie sich diesen Spiegel vorhalten lässt? Die vierzehn Geschichten, die jetzt überwiegend zum ersten Mal gedruckt werden, sind von immenser erzählerischer Kraft und gewinnen ihren besonderen Sog nicht zuletzt durch die ungebrochene, teils erschreckende Relevanz, die sie für die Gesellschaft, in der wir leben, heute noch in verschärfter Weise haben.
Mit unglaublicher Reife und scharfer Beobachtungsgabe beeindrucken die Storys durch die Breite der zugrunde liegenden Erlebnisse und Erkenntnisse und ihre erzählerische Tiefe – und sind dabei so gut erzählt, dass man mit dem Lesen nicht aufhören kann. Oliver führt uns dorthin, wo die Kameras niemals hinkommen. So etwa in der Titelerzählung: Die Geschichte »Nachbarn« steht in starkem Kontrast zu dem ikonischen Bild der sechsjährigen Ruby Bridges, 1960 in New Orleans das erste schwarze Kind, das in die bis dahin weißen Kindern vorbehaltene Grundschule aufgenommen wurde. Das kleine Mädchen ist auf dem Foto von U.S. Marshals umgeben, später sitzt es allein im Klassenzimmer, die anderen Eltern haben ihre weißen Kinder zu Hause gelassen und protestieren vor dem Gebäude. Was bedeutete dieses Ereignis für Kinder wie Ruby Bridges, für Rubys Familie und all die anderen schwarzen Familien?
»Nachbarn« ist eines jener seltenen Werke, die ihre Zeit einfangen und ihr doch weit voraus sind. Diane Oliver erkundet darin die sich wandelnden sozialen Umstände. Über allem, was sie in ihren Storys vor uns entfaltet, könnte die Frage stehen: Gibt es einen Unterschied zwischen dem, was für die Gesellschaft am besten ist, und dem, was das Individuum braucht? Es geht ihr immer um beides, um das Politische und das Persönliche, und damit um allgemeingültige Fragen unserer Existenz und unseres Miteinanders. Zu entdecken ist große Literatur, in der Aktivismus und Poesie in explosiver Weise aufeinandertreffen – von einer mutigen, unerschrockenen jungen Stimme.