03. Aug. 2023

»Das Meer stellt alle Grenzen und Identitäten infrage«

Autor Gregor Hens über seinen neuen Roman »Die eigentümliche Vorliebe für das Meer«, eine junge Frau zwischen zwei Welten, Reisende und Segler und die betörende Kraft des Meeres.
Porträtfoto Gregor Hens
Autor:in, Übersetzer:in

Gregor Hens, geboren 1965 in Köln, arbeitete mehr als zwanzig Jahre lang in den USA, bevor er 2013 nach Deutschland zurückkehrte.

Lieber Gregor Hens, welche Rolle spielt das Meer in Ihrem neuen Roman?

Das Meer steht für Grenzerfahrung und Entgrenzung, es nährt und es bedroht. Zugleich repräsentiert das Meer das Prinzip des Yin, das in diesem Roman dominant ist. Das Wasser ist das Medium, in dem die Figuren dieses Romans leben, es verwischt alle Grenzen und verbindet die Länder und Kontinente, in denen die Figuren agieren. Sie sind Reisende und Segler, sie stammen von Piraten ab, sie springen über Bugkörbe, halten sich an den Geländern wackliger Gangways fest und treten auf schmale Stege. Ich selbst stamme aus einer Seglerfamilie, ich habe die Bücher über Weltumseglungen und Hochseeregatten, die es in meiner Jugend zuhauf gab, Sommer für Sommer in meiner Koje liegend verschlungen.

 

Hauptfigur ist die junge Benedita, die an der Nordsee lebt, aber nach Nam Van im südchinesischen Meer zurückkehrt, wo ihre Familie Wurzeln hat. Was ist das für eine Familie?

Die eigentümliche Vorliebe für das Meer
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Ich habe die Orte im Roman bewusst nicht benannt, sie sind Bilder meiner Fantasie, auch wenn man sich die Insel Nam Van als (kleinere) Schwesterstadt von Hongkong und Macau vorstellen kann, und Geest als Bremen, wo meine Mutter aufgewachsen ist.

Die Chou da Luz betreiben in Nam Van ein Hotel und ein Restaurantschiff. Die Männer sind bestens vernetzt, besetzen politische Ämter und tun, als würde die Stadt ihnen gehören. Die Frauen kommen von außerhalb, aus Geest und aus einer Enklave, die Spanish California heißt. Die Frauen heiraten in die Familie ein, sie kommen an Land und stören die Abläufe. Benedita ist einerseits der letzte Spross dieser illustren Familie, andererseits auch die erste Frau, die tatsächlich in Nam Van geboren wurde. Sie steht also vor der Wahl, im kühleren Norden ihr eigenes Leben zu führen oder in die feucht-heiße Heimat zurückzukehren und die patriarchale Linie der Familie zu übernehmen.

 

Wie haben Sie die tropische Welt von Nam Van eingefangen und gibt es einen persönlichen Bezug?

Nam Van ist schamlos exotisch, es riecht nach scharfem Essen, die Gassen stinken nach Fisch. Die Säger, eine Meerentenart, sind eine Plage, ihr Kot klebt unter den Sohlen der Menschen. Wenn ich die Augen schließe, höre ich ihr Geschnatter, ich rieche diese Stadt, und ich erinnere mich an eine Zeit, als man noch guten Gewissens um die Welt gereist ist. Ich habe einige Jahre in Kalifornien gelebt, ich war in Südamerika, im Südpazifik und im Perlenflussdelta unterwegs, in Samoa, Fidschi, Tonga, Hongkong und auch in Macau.

Wenn ich die Augen wieder öffne, sehe ich die Super-8-Filme, die meine Großtante Anna, eine Tarot-Legerin, die in dem Roman verewigt ist, in den frühen 1970er Jahren auf ihrer Weltreise gemacht hat. Die Filme, die in einem Karton in meinem Keller lagern, sind ein wenig verwackelt, und sie sind nie geschnitten worden. Man sieht Lampionketten, die im Wind schaukeln, man sieht eine funkelnde Hotellobby, man sieht Kinder auf schweren, altmodischen Fahrrädern und eine zerfurchte Hand, die Ginsengwurzeln darbietet. Manchmal vergisst sie, die Kamera auszuschalten, dann baumelt sie an ihrem Handgelenk, ein Hund huscht durchs Bild, man sieht Pfützen und zertretene Eisbecher, dann ist die Kodak-Rolle plötzlich zu Ende. Es sind immer nur drei Minuten.

 

Ein schwimmendes Restaurantschiff und ein Hotel am Meer, das Majestic, sind zentrale Schauplätze. Welche Rolle spielen diese Orte für die Familie?

Die Familie, die selbst im Hotel wohnt, ist nie sesshaft geworden. Ein Hotel ist ein Durchgangsort, auch wenn er golden glänzt wie eine Vision. Als die junge Benedita, die im Majestic und auf dem Restaurantschiff aufgewachsen ist, zum ersten Mal nach Geest kommt, um die Wohnung ihrer verstorbenen Urgroßmutter zu übernehmen, fühlt sie sich so unwohl, dass sie sich zu einem Hotel bringen lässt. Erst dort, als sie die Schlüsselkarte in der Hand hält, hat sie das Gefühl, angekommen zu sein. Dort ist sie zu Hause. Die Jasmin, das Restaurantschiff, ist natürlich ein Unding – im wahrsten Sinne des Wortes. Ein Schiff, das keinen Mast und keinen Motor hat. Als es zum Abwracken fortgeschleppt werden soll, legt es zum ersten Mal ab. Auch dieses wankende Schiff, mit Lampen und Girlanden behängt wie ein indischer Elefant, hat etwas Traumhaftes. »In Zivilisationen, in denen es keine Schiffe gibt, versiegen die Träume«, heißt es in Foucaults Text über die Heterotopien, »die Spionage ersetzt das Abenteuer und die Polizei die Freibeuter.«

 

Benedita steht vor der Entscheidung, ob sie bereit ist, die Verantwortung für ihre Familie und ihr Schicksal zu übernehmen, und taucht dabei in die bewegte Geschichte ihrer Vorfahren ein. Was erfährt sie dabei über sich selbst?

Benedita kehrt an ihrem einundzwanzigsten Geburtstag nach Nam Van zurück, sie ist jetzt – nach den Gesetzen der Stadt – volljährig. Sie erfährt vor allem, dass sie auf sich selbst gestellt ist. Ihr Vater sitzt im Gefängnis, ihre Mutter ist in ihre Heimat zurückgekehrt. Die letzte Verbindung zur Familie ist ihr Onkel Gabriel, ein zugewandter, zugleich etwas abgeklärter Machtmensch. Er wohnt auf seiner Segeljacht, lenkt die Geschicke der Stadt und verwaltet nebenher das Hotel. Am Ende ist Benedita, die sich in einem Akt des Willens von der Familie und von der Stadt befreit hat, sehr einsam. Sie weiß, dass sie ihr Leben nicht ohne echte emotionale Bindung führen kann und dass dieser Ort, Nam Van, ihr ein solches Leben nicht bieten kann. Sie muss es also erschaffen, und dazu unternimmt sie am Ende die ersten Schritte.

 

Wo und wann sollte man Ihr Buch idealerweise lesen? In einer warmen Sommernacht? Am Wasser? Auf einem Schiff?

Es genügt, den Zeh ins kühlende Wasser zu halten, bevor man dieses Buch zur Hand nimmt. Das Meer ist unheimlich und voller Gefahren, besonders nachts. Man sollte also unbedingt ein ruhiges Gemüt mitbringen, und das gelingt vielleicht am ehesten im Urlaub. Wie wäre es mit einer Hotelterrasse? Am späten Vormittag?

Vielen Dank!

 

Das Gespräch führte Friederike Schilbach

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