10. Apr. 2024

»Vom Leben, Puls und Kraft … den Modernen Mensch sing ich«

Eine Autobiographie hat Walt Whitman nie vorgelegt. Die Fragmente aus »Besondere Tage«, in der Übersetzung von Götz Burghardt, sind wohl das, was einer solchen am nächsten kommt. Hier lesen Sie einen Auszug aus Rainer Wielands Nachwort zu dem berührenden Buch und seinem eigenwilligen Autor, der seine große Berühmtheit erst nach dem Tod erlangen sollte.

Ein Auszug aus dem Nachwort von Rainer Wieland

Von den Titelblättern seiner Werke blickt er uns sanftmütig entgegen: Ein milde lächelnder Alter mit Hut und wallendem Bart, unter dem Mund, Kinn und Hals verschwinden – the good grey poet, wie man ihn in seinen späten Jahren nannte. »Er ist Amerika«, befand Ezra Pound, und er wird gefeiert als Begründer der modernen Poesie. Ohne ihn kein William Carlos Williams und kein Jack Kerouac. »Ich lief auf dem Gras / dem sicheren Tau / von Walt Whitman«, dichtete Pablo Neruda in seiner »Ode an Walt Whitman«, auch Federico García Lorca und Allen Ginsberg widmeten dem Verfasser der Leaves of Grass ihre Verse. Walt Whitman, der Sänger der Selbstentfaltung und Sinnlichkeit, des Leibes und der Seele, der Sänger der Demokratie, ist zu einer nationalen Ikone geworden und Teil der populären Kultur. 

Besondere Tage
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Band 472 (2024)
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Kein anderer amerikanischer Dichter ist so häufig vertont worden wie er, von Komponisten wie Benjamin Britten, Ralph Vaughan Williams, Paul Hindemith, Kurt Weill und Leonard Bernstein. Iggy Pop und Lana Del Rey interpretieren ihn in ihren Songs, er wird zitiert in Filmen und TV-Serien. In der Serie Breaking Bad treibt ein der Hauptfigur Walter White gewidmetes Exemplar von Leaves of Grass die Handlung voran, und der Name Walter White ist ganz unverkennbar eine Reminiszenz an den Dichter. Die amerikanische LGBTQ-Bewegung reklamiert ihn heute als einen ihrer Vorläufer. Die Brücke, die den Delaware River zwischen Philadelphia und Gloucester City, New Jersey, in der Nähe von Whitmans Wohnhaus in Camden, überspannt, trägt seinen Namen ebenso wie ein Krater auf dem Merkur. Und wer noch nie Leaves of Grass in Händen gehalten hat, kennt doch zumindest Whitmans Gedicht »O Captain! My Captain!«, gemünzt einst auf Abraham Lincoln. In der Schlussszene des Films Der Club der Toten Dichter steigen die Internatsschüler im Klassenzimmer auf die Tische, um ihrem verehrten Lehrer, verkörpert von Robin Williams, mit diesem Titel Reverenz zu erweisen.

Dabei war Walt Whitman zu Lebzeiten in seiner Heimat USA ein höchst umstrittener Autor. Er wurde der Obszönität und Vulgarität bezichtigt und verrissen. »Sein unzusammenhängendes Geschwätz hat weder Witz noch Methode«, beschied der Boston Intelligencer beim Erscheinen der Erstausgabe von Leaves of Grass 1855, »und es scheint uns, dass er ein entlaufener Irrer sein muss, der in einem bedauernswerten Delirium tobt.« Und ein Rezensent in The Critic schrieb: »Soll es möglich sein, dass die prüdeste Nation der Welt einem Dichter huldigt, dessen Unanständigkeiten zum Himmel stinken … Walt Whitman versteht so viel von Kunst wie ein Wildschwein von Mathematik.« Emily Dickinson bekannte in einem Brief, sie habe Leaves of Grass nicht gelesen, nur gehört, dass Whitman »abscheulich« sei. Und in späteren Jahren nannte Willa Cather Whitman einen »schmutzigen alten Mann« (dirty old man). Die Bostoner Staatsanwaltschaft ermittelte gegen seine Verse, und als dem US-Innenminister James Harlan eine Ausgabe der Leaves of Grass vorgelegt wurde, verfügte er die sofortige Entlassung Whitmans aus dem Staatsdienst.

»Das Selbst sing ich« – lauten die Worte, mit denen Leaves of Grass anhebt. »Vom Leben, unermesslich in Leidenschaft, Puls und Kraft … den Modernen Menschen sing ich.« Nur wenige erkannten von Beginn an die wegweisende Kühnheit von Whitmans Versen. Dazu gehörten Henry David Thoreau und Ralph Waldo Emerson, der dem Verfasser der Leaves of Grass nach der Lektüre 1855 einen enthusiastischen Brief sandte: »Ich grüße sie am Beginn einer großen Laufbahn, hinter der indessen schon ein weites Feld der Vorbereitung liegen muss, nach solch einem Start zu urteilen.« Vierzig Jahre brachte Walt Whitman damit zu, an seinem Hauptwerk zu feilen, es stetig zu erweitern und neu zu arrangieren, Teile zu streichen und zu revidieren. Neun Ausgaben von Leaves of Grass gab er zu Lebzeiten heraus. Die letzte – die sogenannte Sterbebett-Ausgabe – erschien 1892, nur wenige Wochen vor Whitmans Tod. Als der englische Dichter William Rossetti 1868 eine – gleichwohl bereinigte – Auswahl von Whitmans Gedichten in England herausgab, sorgte dies für einige Bewunderer in Europa. Doch materiellen Wohlstand sollte Whitman sein poetisches Werk zu keiner Zeit einbringen. Am Ende sammelten Freunde für ihn, um dem von Krankheit gezeichneten good gray poet in seinem Haus in Camden, New Jersey, ein bescheidenes Auskommen zu sichern. Die Whitmania in seinem Heimatland setzte erst nach Whitmans Tod im 20. Jahrhundert ein.

Geburtshaus Whitman 1890
Walt Whitmans Geburtshaus, West Hills, Long Island, 1890

Eine Autobiographie hat Walt Whitman nicht verfasst. Aber das vorliegende Buch Specimen Days, Besondere Tage – erschienen 1882, zehn Jahre vor seinem Tod – ist wohl das, was einer solchen am nächsten kommt. Den Anstoß zu diesem »Lebensmosaik« gab eine Reise Whitmans zu den Orten seiner Kindheit und den Familiengräbern auf Long Island, die er 1881 zusammen mit Richard Maurice Bucke unternahm – einem seiner Bewunderer, der dabei war, eine Biographie über den Dichter zu schreiben. Wer allerdings eine chronologische Schilderung der Lebensstationen Whitmans erwartet oder gar die Darstellung einer inneren Entwicklung, wird enttäuscht sein. Specimen Days sei, wie Whitman einleitend bemerkt, ein »Sammelsurium« von Fragmenten, aus einer Laune heraus zusammengetragen und in Druck gegeben – und, wenn er denn in seinem Leben nichts anderes zustande brächte, das vielleicht »eigenwilligste, ursprünglichste, bruchstückhafteste Buch …, das jemals gedruckt wurde«. In einer Fußnote listet Whitman eine Reihe von Titeln auf, die er dafür in Erwägung gezogen und wieder verworfen haben will: »Notizen eines Halb-Gelähmten«, »Wochein und Wochaus«, »Echos und Eskapaden«, »Ausgelassenheit«, »Überbleibsel«, »Brennholz«, »Ein Lebensmosaik«.

Armory Square Lazarett, Station K
Armory Square Lazarett, Station K

Tatsächlich erscheint das Buch auf den ersten Blick wie eine Sammlung flüchtig hingeworfener Notizen aus verschiedenen Lebensabschnitten des Dichters. Bei näherer Betrachtung lassen sich verschiedene Themen und Abschnitte ausmachen: Die Herkunft und die frühen Jahre Whitmans auf Long Island, in Manhattan und in Brooklyn; seine Zeit als Lazaretthelfer im Amerikanischen Bürgerkrieg; ein Sommeraufenthalt auf einer Farm in der Nähe von Philadelphia, wo sich der Dichter von einem Schlaganfall erholte; die Beschreibungen zweier Reisen – Whitmans »große Reise in den Westen« 1879 und die nach Kanada 1880, und schließlich die Gedanken des Autors über eine Reihe von prägenden Autoren wie Emerson, Carlyle und Poe. Doch sosehr auch Whitman immer wieder das Zufällige und Flüchtige dieser Sammlung von Notizen herausstreicht, verfolgt er dabei doch einen bestimmten Zweck. Eine jede der hier geschilderten Szenen weist über sich hinaus. Alle Dinge und Menschen, denen Whitman Beachtung schenkt, erweisen sich als exemplarisch, jeder in diesen Notizen festgehaltene Tag ist ein besonderer, die Welt umarmend, aufgehoben im natürlichen Kosmos. Für Specimen Days gilt ebenso wie für Leaves of Grass: In der Schilderung seines Lebens sah Whitman »eine Etappe der Menschheit« illustriert, sein eigenes Leben sah er mit der Entwicklung seiner Nation in Kongruenz gesetzt. Der Sänger seiner selbst und der Sänger Amerikas waren in Whitmans Augen eins.

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