21. Juli 2022

Von einer Chocolaterie als Zufluchtsort in dunklen Zeiten: Anne Stern über ihren Roman »Drei Tage im August«

In ihrem Roman »Drei Tage im August« erzählt Bestsellerautorin Anne Stern von einer Chocolaterie als Zufluchtsort in dunklen Zeiten und von einer besonderen Frau, die nicht wie andere ist. Hier spricht die Autorin von ihrer Recherche in einer Berliner Pralinenfabrik und davon, wie sie zu ihren außergewöhnlichen Figuren gekommen ist.

Der Schauplatz Deines neuen Romans ist ein sehr sinnlicher Ort, die Chocolaterie Sawade an der Prachtallee Unter den Linden. Wie bist Du auf die Geschichte diese Berliner Traditionsfirma gestoßen?

Auf die Firma Sawade bin ich während meiner Recherche zu einem Roman aus meiner »Fräulein Gold«-Reihe gestoßen. Zunächst brauchte ich dafür einen Pralinenhersteller, der in den 1920er Jahren in Berlin erfolgreich war, und Sawade ist in Berlin bis heute ein bekannter Name. Doch ich habe gemerkt, dass mich die Geschichte dieses Ladens nicht losgelassen hat, immer wieder haben sich die Sawade-Pralinen in meine Bücher geschummelt, ohne, dass ich wusste, wie genau. Da habe ich entschieden, dass es Zeit ist, die Geschichte der Pralinenmanufaktur ganz eigenständig in die Mitte einer Romanhandlung zu stellen. Es ist eine bittersüße Geschichte, genau wie die Trüffeln, die dort bis heute mit viel Liebe zum Traditionshandwerk hergestellt werden.

Konntest Du Einblick in das Firmenarchiv nehmen?

Das Firmenarchiv der Sawade-Fabrik ist sehr überschaubar, es ist fast nichts erhalten außer ein paar alten, sehr schönen Pralinenschachteln – und einem Original-Bestellbuch aus den 1940er Jahren. Als ich die Einträge in diesem Buch las, die dort in altertümlicher Handschrift geschrieben standen, war ich sofort fasziniert und fand mich wie in einer Zeitmaschine um viele Jahrzehnte zurückgereist. In dem Buch liest man liebevoll vermerkte Details zu den Bestellungen und den speziellen Wünschen der Kund:innen, die von Sawade noch zur Zeit des Kriegs beliefert wurden, genaue Preisangaben und nicht zuletzt all die verheißungsvollen Namen der Pralinen – Königin-Luise-Pastete, Zarenhappen, Ingwerstäbchen, Mokkatrüffel –, die es teilweise heute noch gibt. Was aber das Faszinierendste war: Für mich erstanden in diesem Moment die Menschen hinter diesem alten Buch wieder auf. Wer waren die Frauen, die in diesem Geschäft Unter den Linden arbeiteten? Was fanden sie in ihrer Arbeit, welchen Schwierigkeiten sahen sie sich gegenüber, wovon träumten sie? Ich wollte ihnen ein Gesicht und eine Stimme geben.

Anne Stern, Sawade
Original-Werbemittel

Welche Elemente Deines Romans stimmen mit der Geschichte der Gründerfamilie überein?

Man weiß fast nichts über die Gründung des Geschäfts, außer dem Jahr 1880 und einem Namen – der des Chocolatiers Ladislaus Ziemkiewicz. In den alten Berliner Adressbüchern kann man außerdem erfahren, dass zur gleichen Zeit eine Marie im Vorderhaus des Ladengeschäfts lebte. Doch welches Verhältnis sie zu dem Pralinenmacher und seinem Geschäft pflegte, werden wir nicht mehr erfahren. Aber genau diese fehlenden Informationen sind es, die mich zu einem Roman inspirieren. Der Rest ist reine Fiktion …

 

In Deinem Roman erzählst Du auch die Geschichte der Berliner Prachtallee Unter den Linden. Und Du wählst für Deinen Roman eine Erzählzeit von nur drei Tagen im Sommer 1936, während der Olympischen Spiele. Was hat Dich an diesem Ort interessiert? Warum sollte es genau diese Zeit sein?

Die bewegte Geschichte der Allee Unter den Linden hat mich sehr fasziniert. Während die Gegend heute mit ihren vielen berühmten Bauwerken und Museen vor allem Tourist:innen anzieht, war sie in den 1930er Jahren ein quirliger, beliebter Wohnkiez, mit vielen Geschäften, Cafés, Theatern und Varietés. Es war ein buntes Viertel voller Widersprüche, in dem Menschen verschiedenster Herkünfte lebten. Heute würde man von Vielfalt sprechen, die dort bereits damals ganz selbstverständlich gelebt wurde.

Doch 1933 endete dieses Zusammenleben gewaltsam. Jüdische und andere als fremd wahrgenommene Anwohner:innen wurden verdrängt, ihre Geschäfte »arisiert«, den schrecklichen Höhepunkt fand diese Entwicklung in der Ermordung von Millionen. Ich habe mich gefragt, was das mit einer Nachbarschaft macht, wenn Menschen aus ihrer Mitte herausgerissen werden. Wie leben die anderen damit weiter? Deshalb habe ich das unglaublich interessante Jahr 1936 gewählt. Während der Olympiade lüfteten die Nazis ein letztes Mal vermeintlich den Schleier ihrer Gewaltherrschaft, gaben sich weltoffen und tolerant. Es war eine riesige, perfide PR-Aktion gegenüber der Welt, die direkt nach dem Ende der Spiele wieder in verstärkten Terror und Mobilmachung überging. Es muss ein sehr seltsamer Sommer in Berlin gewesen sein, ein trügerisches Spiel, in dem man unter der Oberfläche spürte, was geschehen würde. Und so habe ich die Erzählzeit des Romans auf drei Tage beschränkt, ich habe versucht, in einzelnen, fast filmischen Szenen die Geschichten der Menschen auf der Allee zu erzählen. Auf diese Weise erreicht die Erzählung eine ganz eigene, leicht fiebrige Dynamik, wie ein etwas zu lautes Herzklopfen, das uns durch die Seiten trägt.

 

Was an Deinem Roman sofort auffällt, sind die außergewöhnlichen Figuren, die Zuflucht in der Chocolaterie suchen. Vor allem die Protagonistin Elfie ist eine besondere Frau, die, wie man später erfährt, die Bürde einer psychischen Erkrankung trägt. Was hat Dich zu diesen Figuren und ihren Geschichten inspiriert; was hat Dich daran gereizt, über diese Menschen zu schreiben?

Als Schriftstellerin interessieren mich natürlich vor allem Menschen mit Brüchen, und meine Protagonistin Elfie Wagner ist eine solche Frau. Sie leidet wahrscheinlich an einer Depression, die zu dieser Zeit nicht diagnostiziert wurde, die aber ihre ganze Existenz bestimmt. Trotz ihrer Erkrankung ist sie der Mittelpunkt des Pralinengeschäfts und schafft es, die verschiedensten Menschen um sich herum zu versammeln und miteinander zu verbinden. Ich möchte keine glatten Lebenswege zeigen, sondern darüber schreiben, wie es möglich ist, mit den dunklen, den schweren Gepäckstücken, die jede:r von uns mit sich durchs Leben trägt, umzugehen. Und wie trotzdem Momente des Glücks, der Freundschaft, der Liebe möglich sein können.

Für mich ist die Chocolaterie ein Symbolort, an dem Menschen zusammenkommen, die auf der Suche sind. Sie alle tragen eine bestimmte Sehnsucht in sich, eine Angst vor der Zukunft vielleicht, aber eben auch eine Hoffnung auf Linderung ihrer Sorgen, einen Glauben an das Glück. Wer Schokolade genießt, der lebt im Moment, der ist für ein paar Sekunden eins mit sich und der Welt. Doch es ist klar, dass Pralinen nicht langfristig gegen Unterdrückung, geschweige denn Todesangst helfen. Und so ist auch meine Geschichte nicht nur leicht, sondern oft auch bittersüß und melancholisch, so wie das Wetter in diesen Augusttagen 1936, das sich wirklich so wechselhaft wie in meinem Roman zeigte – man spürt, dass der Wind sich drehen wird, dass der Herbst kommt und mit ihm der drohende Untergang. Doch über den lesen wir noch nichts in meinem Roman. Dort sehen wir den Figuren zu, wie sie noch ein letztes Mal für drei Tage im August verharren dürfen, wie sie noch einmal Hoffnung schöpfen und mit aller Kraft versuchen, sich ihre Menschlichkeit zu bewahren – auch, wenn wir ahnen, dass sie am Ende scheitern müssen.

Anne Stern bei ZEIT für Literatur

Die Autorin liest im Podcast »ZEIT für Literatur« aus ihrem Roman.

Anne Stern über »Drei Tage im August« | Interview

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